Publikation «Wohnungselend in Stuttgart»

Wiederauflage einer Broschüre von Friedrich Westmeyer aus dem Jahr 1911

Information

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg freut sich, die Broschüre, die lediglich in einigen Bibliotheken und Archiven vorlag, hier einer Breiten historisch und wohnungspolitisch interessierten Leser*innenschaft zur Verfügung zu stellen.

Die Broschüre kann unter bawue@rosalux.org kostenlos bestellt werden oder auch hier heruntergeladen werden.

«Die große Mehrheit der Bevölkerung Stuttgarts leidet schwer unter der Wohnungsnot.» Schon dieser erste Satz der 1911 erschienenen Sozialreportage «Wohnungselend in Stuttgart» mutet merkwürdig aktuell an. Auch damals gehörten Wohnungsmangel und hohe Mieten zu den größten Problemen der arbeitenden Bevölkerung.

Die sozialdemokratische Schrift entfaltete ihre Wirkung dadurch, dass dokumentarische Fotos die Aussagen belegten – für die damalige Zeit, in der Zeitungen nur aus Text bestanden, eine revolutionäre Ausnutzung neuer Medien. Ebenso interessant ist Verwendung von Zahlen der medizinisch-statistischen Jahresberichte der Stadtverwaltung.

Sicher wird man die krassesten Formen dieses Wohnungselends heute selten finden, doch schon das immer ungünstiger werdende Verhältnis von Arbeitslohn zur Wohnungsmiete stellt für viele Familien ein zentrales Problem dar: ausreichender Wohnraum belastete schon damals mit bis zu 44% des Einkommens: «Ein immer größerer Teil des Arbeitslohnes, des Gehalts, des Verdienstes wird durch den Mietzins aufgefressen», fließt «in die Taschen der Hausbesitzer», so dass «die Ernährung notleidet».

Die Broschüre begrügt nicht mit der Beschreibung der Misere, sie analysiert Ursachen und macht Vorschläge zur Eindämmung. Das Grundeigentum sei in den Besitz der Gesamtheit zu überführen, da das Privateigentum am Boden unvereinbar geworden sei mit dem allgemeinen Wohl. Damit aber sei auch die Frage der politischen Macht verbunden, die vom arbeitenden Volk erobert werden müsse. In einem Konzept der «revolutionären Realpolitik» (Zetkin) wird diese Systemfrage verbunden mit der Notwendigkeit, «Linderung auch jetzt schon» anzustreben, etwa durch von der SPD im Landtag erreichte Verbesserungen der Bauordnung. Das Gemeindeprogramm der Partei setzte Schwerpunkte, um die Bodenspekulation einzudämmen: Neubaugebiete sollten nur auf der Kommune gehörenden Flächen genehmigt werden. Dazu gelte es, diese Flächen zu erwerben, um Spekulation zu verhindern, zudem Gemeinbesitz zu erhalten und nur über das Erbbaurecht abzugeben. Dabei seien die Verkehrseinrichtungen zu kommunalisieren (die Straßenbahn war damals noch privat) und planmäßig auszubauen. Kommunaler Wohnungsbau solle nicht nur für städtische Beschäftigte betrieben, Förderung von Wohnungsbaugenossenschaften gefördert werden. Miete sei zu erheben unter Verzicht auf Grundrente, nur zur Deckung der Herstellungs- und Erhaltungskosten.

Heute, 112 Jahre später, ist die Wohnungsversorgung in der Bundesrepublik nach wie vor den Zwängen einer kapitalistischen Wirtschaftsweise unterworfen. Viele der von Westmeyer 1911 in Stuttgart dargestellten Probleme sind in der ein oder anderen Form auch im Stuttgart der Gegenwart noch aktuell – ebenso wie die von den damaligen Sozialisten geforderten Gegenmaßnahmen. Wir hoffen, dass die Broschüre eine Anregung sowohl für Interessierte an der Geschichte der Arbeiterbewegung ist, als auch für Menschen, die sich heute wohnungspolitisch engagieren.