Nachricht | Theodor Bergmann zum 100. Geburtstag!

Ein Leben als Geschichtsbuch

Theodor Bergmann. Goto: Veit Feger, via Wikimedia Commons

Vom Abitur ins Exil

Wenige Tage nach dem Abitur musste Theo Bergmann am 7.3.1933, seinem 17. Geburtstag, Deutschland verlassen. Die SA stand schon vor dem Haus, nicht weil der Vater Rabbiner und Leiter der jüdischen Volkshochschule Berlins war, sondern auf der Suche nach einem der radikalen Söhne. Theos 1910 geborener Bruder Alfred wurde einen Tag später verhaftet, nach KZ-Haft und Flucht 1940 von der Schweiz an die Gestapo ausgeliefert und ermordet. Ein Stolperstein vor seiner früheren Wohnung in Berlin, Uhlandstraße 194a, erinnert an ihn.

Durch diesen älteren Bruder war Theo in Kontakt gekommen mit der kommunistischen Bewegung, die sich 1928 spaltete, als die Sozialdemokratie von der KPD zum sozialfaschistischen Hauptfeind erklärt wurde. Die Vertreter der Einheitsfrontpolitik mussten klein beigeben oder wurden, wie der frühere KP-Vorsitzende Heinrich Brandler, ausgeschlossen. Er gründete 1928 die KPD-Opposition, in deren bescheidenen Räumen Theo als Jugendverbandsaktivist nicht nur mithalf, sondern bei den Altspartakisten eine politische «Lehre» absolvierte. August Thalheimer verfasste hier seine hellsichtigen und warnenden Analysen, die Wolfgang Abendroth 1967 als die wichtigste theoretische Arbeit zum Thema Faschismus bezeichnete.

Über Saarbrücken floh Theo Bergmann 1933 nach Marseille, von wo ihn ein Schiff nach Palästina brachte. Die britischen Behörden ließen jährlich ein schmales Kontingent jüdischer Flüchtlinge einreisen. Doch das Schulgeld für eine Ausbildung auf der Landwirtschaftsschule konnte er nicht aufbringen. Daher reiste nach zwei Jahren im Kibbuz 1936 in die Tschechoslowakei, wo er im Sudentenland Landwirtschaft studierte, während er sein Brot als Landarbeiter verdiente und die illegale Arbeit der KPO im Reich unterstützte. Der spanische Bürgerkrieg wurde von den Emigranten kontrovers diskutiert, vor allem die Volksfrontpolitik, mit der die demokratischen Regierungen für ein Bündnis gegen den Faschismus gewonnen  werden sollten. Doch England und Frankreich ließen nicht nur Spanien im Stich, sondern auch die Tschechoslowakei, in die Hitler 1938 einmarschierte, um das Sudetenland zu besetzen. Bergmann musste erneut fliehen, über Danzig nach Dänemark, wo er nur knapp der Auslieferung an Hitlerdeutschland entging. In Schweden fand er immerhin Aufnahme, eine Arbeitserlaubnis aber nur für Tätigkeiten, für die sich keine Schweden finden ließen: er schlug sich als Melker und Waldarbeiter durch.

Für eine unabhängige Arbeiterpolitik

Erst ein Jahr nach Kriegsende konnte Theodor Bergmann im April 1946 nach einem dreizehnjährigen Exil in ein auch geistig zertrümmertes Deutschland zurückkehren. Im Gepäck trug er Arbeiten August Thalheimers: Die Broschüren «Die Potsdamer Beschlüsse» (1945) und «Grundlagen und Grundbegriffe der Weltpolitik nach dem 2. Weltkrieg» (1946) sollten eine Grundlage bilden für die Diskussion mit aus den Bombenkellern, den Konzentrationslager oder der Emigration zurückkommenden Genossinnen und Genossen der früheren KPD-Opposition. Mit diesen Texten reiste nun Bergmann durch die Besatzungszonen, um an alte Kontakte anzuknüpfen, die während der NS-Herrschaft und des Krieges immer spärlicher geworden waren. Doch die Bereitschaft, sich nochmals einer «Zwischengruppe» anzuschließen, war wenig ausgeprägt.

Im antifaschistischen Widerstand und in den Lagern schienen die alten Fraktionsgrenzen verschwunden zu sein. In der illegalen Lagerleitung des KZ Buchenwald hatten neben den KPD-Leuten die KPO-Genossen wie Robert Siewert, Ludwig Becker auch menschlich vorbildlich gewirkt. Willi Bleicher wurde durch seinen Einsatz für den kleinen Juschu Vorbild für die Hauptfigur im Roman «Nackt unter Wölfen» von Bruno Apitz. Angestrebt werden sollte, so das Buchenwald-Manifest vom 13.3.1945, «die Einheit der sozialistischen Bewegung», begründet auf den «Gedanken des Klassenkampfs und der Internationalität».

Beim politischen Neubeginn 1945 wurden die KPO-Mitglieder auch in der SBZ nicht nur ohne Vorurteile akzeptiert, sie hatten auf Grund ihrer Erfahrungen und ihrer Zuverlässigkeit an vielen Stellen Leitungsfunktionen inne. Vier ehemalige KPO-Funktionäre wurden Minister in Landesregierungen – alle aber nach 1948 im Zuge der Re-Stalinisierung aus der KPD/SED  ausgeschlossen, soweit sie nicht vorher ausgetreten waren. 1949 galten sie schon wieder als «eine Agentur des anglo-amerikanischen Imperialismus», wie Robert Siewert in seiner «Selbstkritik» im «Neuen Deutschland» erklären musste.

Die Zeitschrift «Arbeiterpolitik», deren unbezahlter Redakteur Theo 1948 wurde, veröffentlichte im Anschluss an Thalheimers Analysen kluge und weitsichtige Texte, beschrieb früh die bevorstehende Spaltung Deutschlands, die Anpassung der sozialen Systeme der Besatzungszonen an die jeweiligen Besatzungsmächte, forderte eine eigenständige Politik der deutschen Arbeiterklasse. Nur ansatzweise gelang aber eine Übertragung in politische Wirksamkeit, etwa bei den erfolgreichen Kämpfen gegen die Demontage der Reichswerke Salzgitter. Neue Entwicklungen wie der Konflikt zwischen Tito und Stalin führten zu bitteren Auseinandersetzungen in der Redaktion. Theo Bergmann trat aus und konnte, unterstützt von seiner Lebensgefährtin Gretel, 1955 mit einer Arbeit über die Landwirtschaft in Schweden schließlich promovieren und sich unter den oft reaktionären und teilweise antisemitischen Professoren als Fachmann für internationale Agrarpolitik behaupten. Genossenschaft und Kibbuz, Entwicklung in Indien, Afrika und China waren die Hauptthemen des bei den Studenten respektierten Professors der Universität Stuttgart-Hohenheim. Auch mit der Entwicklung in Israel setzte sich der «nichtjüdische Jude und Internationalist» stets kritisch auseinander, ohne jedoch dem neuen Staat das Existenzrecht abzusprechen: so etwas sei nach Auschwitz nicht mehr zulässig. Bei seinen Familienangehörigen in Israel feiert er nun seinen 100. Geburtstag – zur Landtagswahl wird er aber pünktlich wieder in Stuttgart sein.

Trotzdem Optimist

Mit einer kleinen Tagung erinnerte er 1978 an die Gründung der KPO vor 50 Jahren. Nach seiner Emeritierung 1981 arbeitete er intensiv an der Geschichte dieser «organisierten kommunistischen Richtung» und ihrer Aktivisten, bis er 1987 das heute noch wichtige Standardwerk «Gegen den Strom. Die Geschichte der KPD-Opposition» veröffentlichen konnte. Seither hat er fast jährlich Bücher publiziert, oft Ergebnisse der von ihm organisierten wissenschaftlichen Tagungen über die «Ketzer im Kommunismus» wie Bucharin oder Liu Shaoqi. Nach dem Ende der DDR und der SU standen endlich auch die Archive für entsprechende Forschungen offen und es konnten neue Kontakte geknüpft werden. Stets beharrte Theo darauf, dass es keinen Automatismus zum Untergang dieses ersten sozialistischen Versuchs gegeben habe, sondern Alternativen bestanden - oder dass es sie, wie bei der Entwicklung Chinas, immer noch gibt.

Der aus Anlass seines 100. Geburtstags am 9.3. erschienenen Neuauflage seiner sehr lesenswerten Autobiografie «Im Jahrhundert der Katastrophen» hat er einen Schlussteil hinzugefügt, dessen letzter Satz lautet: «Der Kapitalismus darf nicht das letzte Wort der Geschichte sein. Ich bleibe auch im Niedergang und nach der Niederlage von 1989 Optimist.» Vielleicht ist das einer der Gründe, warum Theo Bergmann noch als Hundertjähriger fast jede Woche gerade von jungen Leuten eingeladen wird, um sie durch die seltene aktive Zeitzeugenschaft eines im Kaiserreich begonnenen Lebens und die Gradlinigkeit seines Lebenslaufs zu beeindrucken, und, wie er sagt, einige der «teuer erworbenen Erfahrungen zu vermitteln».

Erhard Korn, Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg