Publikation International / Transnational - Migration / Flucht - Afrika - Westafrika Über Doktoren aus Niger

Wider die Vereinfachung in der Migrationsdebatte

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Armin Osmanovic,

Erschienen

März 2018

In der deutschen Debatte um die Einwanderungspolitik spielt Sahra Wagenknecht mit ihren Aussagen zur Migration eine wichtige Rolle, da sie nicht nur die Frage nach der nationalen Aufnahmefähigkeit stellt, sondern auch den Blick auf die internationale Dimension lenkt. Nach Meinung der Fraktionschefin der Partei Die LINKE im Deutschen Bundestag belastet die Emigration die Volkswirtschaften, etwa in Afrika, da diese qualifizierte Kräfte verlieren. Wagenknecht spricht in diesem Zusammenhang von einem «zynischen System»: Reiche Länder wie die Bundesrepublik Deutschland profitieren, so die Politikerin, durch die Abwanderung etwa von «Ärzten aus Niger» und anderen qualifizierten Arbeitskräften aus Afrika und anderswo.

Vom Brain-Drain zum Brain-Gain

Die Diskussion um die Effekte der Abwanderung von Arbeitskräften aus Entwicklungs- und Schwellenländer in die Industrieländer dauert seit vielen Jahren an. Unter der Überschrift des sogenannten «Brain-Drains» werden die volkswirtschaftlichen Kosten für die Entsendeländer zu bestimmen versucht. Dabei geht es sowohl um die direkten Kosten der Abwanderung, d.h. um die Kosten für die Ausbildung in Schulen und Universitäten, die im Falle einer Abwanderung der Arbeitskraft nicht ausgeglichen werden, als auch um die indirekten Kosten, da die abgewanderten Menchen weder als Arbeitskräfte noch als Konsumenten der einheimischen Volkswirtschaft zu Gute kommen.

Zum Brain-Drain gibt es sehr viele Beispiele, nicht zuletzt aus Afrika, so etwa aus Simbabwe. Nicht erst seit der wirtschaftlichen und politischen Krise ab dem Jahr 2000 sind viele ausgebildete Arbeitskräfte, insbesondere aus dem Gesundheitssektor (ÄrztInnen und Krankenschwestern), zunächst nach Großbritannien und später auch nach Südafrika abgewandert. Seit einigen Jahren hat sich aber die Migrationsdiskussion verändert, nun werden zunehmend auch die positiven Effekte der Migration - subsumiert unter dem Begriff des «Brain-Gain» - stärker in den Blick genommen. Vor allem geht es dabei um die Rücküberweisungen von MigrantInnen aus den Industrieländern und Schwellenländern - z.B. gibt es in China eine große afrikanische Diaspora[1] - in die Entwicklungsländer. Die Rücküberweisungen von MigrantInnen in ihre Heimatländer haben in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen. In manchen Ländern Afrikas sind diese Rücküberweisungen seit vielen Jahren bedeutender als die offizielle Entwicklungshilfe und machen einen großen Anteil an der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung aus:

Anteil der Rücküberweisungen am BIP (2010 und 2016)
Anteil der Rücküberweisungen am BIP (2010 und 2016) - Quelle: Weltbank 2017

Die Rücküberweisungen haben in den Entwicklungsländern vielfältige Effekte. Zuallererst tragen sie zu einer ausgeglichen Zahlungsbilanz der Länder bei, die aufgrund ihres infrastrukturellen Nachholbedarfs einen hohen Kapitalbedarf haben, der nur schwer über die niedrige interne Sparquote finanziert werden kann. Vor allem aber sind die Rücküberweisungen über die Jahre zu einer Form von internationalem sozialen Sicherungssystem herangewachsen, da ein großer Teil der Rücküberweisungen für Schulgeld, Arzt- und Krankenhausbesuche ausgegeben wird. In vielen Ländern Afrikas existieren soziale Sicherungssysteme nicht oder sind unzureichend, so dass Familien gezwungen sind füreinander einzustehen. Deshalb werden MigrantInnen aus Afrika auch häufig in den Familien ausgesucht und ihre «Reise nach Europa» von den Familien «vorfinanziert». Familiennetzwerke sind bei der Organisation der Reise nach Europa häufig entscheidender, als die in vielen Reportagen gezeigten kriminellen Netzwerke.[2]

Des Weiteren helfen die Rücküberweisungen natürlich auch beim Kauf von Konsumgütern, wie Fernseher, Handys, Kühlschränke. Und selbstverständlich wird der Bauboom in vielen Städten Afrikas von den Rücküberweisungen der MigrantInnen mit angetrieben, die «zu Hause» für sich und ihre Familien Häuser bauen oder errichten, um sie an die zahlreichen Zuwanderer aus den Industrieländern oder China, Indien oder die Türkei zu vermieten, die in Afrika als Arbeitskräfte am Ausbau der Infrastruktur oder bei der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen tätig sind. Neben diesen direkten Gewinnen aus der Migration erhalten die Länder in Afrika auch indirekte Leistungen. Diese Leistungen bestehen im sogenannten Wissenstransfer an denen die MigrantInnen beteiligt sind. Durch ihre Aufenthalte, etwa in Europa, sind die MigrantInnen als Arbeitskräfte mit anderen Techniken und Standards in Kontakt gekommen. Diese setzten sie in ihren Heimatländern während ihren Urlaubsbesuchen oder nach ihrer Rückkehr nach einem längeren Auslandsaufenthalt ein. Viele MigratInnen wollen nur nach Europa, um Startkapital für ein «Business» in Afrika zu sammeln.

Neben den finanziellen Leistungen gibt es also durch die Migration auch Leistungen in Form von Wissensgenerierung, die den Entsendeländern in anderer Weise zu Gute kommen. Dies gilt selbstverständlich auch für die Bereiche Politik und Gesellschaft. Die Literatur zum Thema Diaspora und ihren Einfluss auf die Herkunftsländer ist lang, denn die MigrantInnen sind in vielen gesellschaftspolitischen Themen Antreiber für Veränderung. Die autoritären Verhältnisse in vielen Ländern Afrikas und die traditionellen Geschlechterrollen, werden nicht zuletzt gerade auch von der Diaspora immer wieder in Frage gestellt und auch, wenn vielleicht auch nur in der eigenen Familien, anders gelebt.

Komplexe Realitäten

Viele afrikanische Volkswirtschaften sind in der Tat extrem globalisiert. Afrikas externe Abhängigkeit ist ungleich größer als die Abhängigkeit europäischer Staaten. Dies hat selbstverständlich historische Gründe. Die westafrikanischen Länder waren bis zu ihrer Unabhängigkeit entweder Teil des britischen oder französischen Kolonialreiches und wurden in diese Kolonialreiche und ihre Wirtschaften eingepasst. Im Falle Frankreich galt bis über die Unabhängigkeit hinaus der freie Personenverkehr. Bis in die 1970er Jahre konnten Senegalesen, Malier oder Menschen aus dem Niger frei und teilweise ohne jede Kontrolle einreisen und sich in Frankreich niederlassen. Der französische Film mit dem deutschen Titel «Ein Dorf sieht schwarz», erzählt die wahre Geschichte eines Arztes aus dem Kongo, nicht aus Niger, der sich aus politischen Gründen den lukrativen Posten als Leibarzt des kongolesischen Diktators Mobutu ablehnt und sich für das Arztleben im ländlichen Frankreich entscheidet. Dort müssen er und seine Familien sich dem Rassismus der dussligen Landbevölkerung Frankreichs herumschlagen.

Die Abschottungspolitik, welche die EU seit vielen Jahrzehnten verfolgt, und in den letzten Jahren an Schärfe zugenommen hat, verärgert die Menschen in den früheren Ländern der Kolonialreiche, [3] deren Großväter, meist nicht freiwillig und häufig ohne daraus resultierenden Rentenanspruch, sogar an unseren Kriegen in Europa teilgenommen haben. Denn die Migration war ein Weg, um aus den in der Außenabhängigkeit gefangenen afrikanischen Ländern, das «Beste» zu machen. Frei nach dem Motto, wenn ihr uns schon ausbeutet, dann aber nicht ohne Gegenleistung. Diese von den Afrikanern mitbeeinflusste Außenabhängigkeit gilt natürlich auch für die Entwicklungspolitik. Angesichts der sozialen Misere werden die Projekte der Entwicklungshilfe in Afrika nicht wirklich in Frage gestellt und damit den lokalen Verhältnissen angepasst, sondern nicht selten einfach angenommen und dann im eigenen Sinne interpretiert und umgestaltet. Viele Projekte bleiben so in dieser Form des «Nicht-Verstehens» zwischen Geber und Nehmer auf der Strecke.

Die deutsche Migrationsdebatte bedarf einer internationalen Perspektive, die weder die volkswirtschaftlichen noch historischen Faktoren vernachlässigt und die komplexe Realität, zu der auch wir EuropäerInnen gehören, zu verstehen versucht. Es wäre wünschenswert, wenn deutsche Universitäten bzw. das Bundesministerium für Bildung und Forschung für Studierende aus Afrika an Universitäten und Schulen in Afrika einen Beitrag zum Ausgleich ihrer bereits getätigten Ausgaben übernehmen würden. Begrenzte Aufenthaltstitel und Kontingente für MigrantInnen, um in Europa arbeiten zu können, erscheinen in einer internationalen Perspektive auf die Effekte der Migration sinnvoller, als die neuen Millionenprogramme der Bundesrepublik und der EU, die gegenwärtig schnell aus dem Boden gestampft werden, damit man zu Hause sagen kann, dass man nicht nur Zäune errichtet. Im neuen Geldfluss droht leider die Erkenntnis unter zu gehen, dass Afrika in der Vergangenheit durchaus schon hohe Zahlungen erhalten hat, dass aber die Entwicklungshilfe nicht immer das geeignete Instrument ist, die Entwicklung bringt, dass die Transformation von Gesellschaften ein langer Weg ist. Gerade europäische Erfahrungen in der Geschichte zeigen, dass temporäre oder dauerhafte Migration ein Weg zu sozioökonomischer Entwicklung ist.


[1] Howard D. French: Chinas Second Continent, 2014.

[2] Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Westafrika unterstützt zu diesem Aspekt der Emigration eine laufende Studie an der Universität von Saint-Louis (Senegal).

[3] Odile Jolys: Abschottungspolitik der EU vergrämt die Senegalesen, Neues Deutschland, 27.12.2016; Odile Jolys:  Junge Menschen im Senegal träumen von Europa, Migazin, 26.11.2016