Publikation Ein linker Blick auf das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 in Baden-Württemberg

Von Erhard Korn, Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg.

Information

Die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag: CC BY-NC-SA 2.0, Daniela Hartmann, via Flickr www.flickr.com/photos/danielahartmann/2905010314

Die Linke hat (in BW) mit 3,3% der Zweitstimmen ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis eingefahren und bewegt sich wieder auf dem Niveau von 2005 (3,8%). Das Ergebnis liegt aber auch dicht an dem der Landtagswahl vom März 2021, wo die Linke 3,6% erreichte – so viel, wie in ganz Westdeutschland. Offenbar gibt es in dieser Größenordnung eine Art Kernwählerschaft.


Gegenüber 2017 und auch gegenüber Meinungsumfragen aus der Zeit vor Corona hat die Linke ihren Stimmenanteil fast halbiert. Neben den Hauptverlusten zu SPD und Grünen und «andere Parteien» sind bundesweit 500.000 nicht mehr zur Wahl gegangen und 250.000 verstorben. Nur von einem Drittel ihrer Wählerinnen und Wähler von 2017 wurde sie wiedergewählt.

Halbiert auf 5% hat sich bundesweit seit 2017 der Anteil von «Arbeitern», die links wählen, gemessen an 2009 ist der Anteil von 18% auf 5% zurückgegangen, derjenige der Rentner von 12% auf 4%. Gleich geblieben ist mit 21% der Anteil von Arbeitern, die AfD wählen. Sehr hoch ist der Anteil von Nichtwählern.

Dies korrespondiert mit einem gesunkenen Anteil von Wählern mit HS-Abschluss (von 11 auf 2%). Bei dieser Gruppe hat die SPD mit 36% die CDU mit 24% wieder überholt, die 2013 noch 43% dieser Gruppe gewinnen konnte. 12% der Menschen mit HS-Abschluss haben AfD gewählt – genau im Durchschnitt.

Eine einseitige Fokussierung auf die Sozialpolitik wäre aber wenig hilfreich, da sicherlich gerade den jüngeren Wählern die Klimapolitik ebenso wichtig ist:


Auch bei Gewerkschaftsmitgliedern hat die Linke fast die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren:



Positiv zu vermerken ist das relativ gute Abschneiden bei Jungwählern (18-24: 8%, 25-34: 7%), hier waren auch die Verluste signifikant geringer. Die größten Verluste lagen bei den Menschen über 60, wo die Linke um 6 Punkte auf 4% abrutschte. Umgekehrt hat die SPD in dieser Altersgruppe am stärksten zugelegt. Da in diese Wählergruppe fast 40 % umfasst, war das Wahlverhalten der älteren Menschen offenbar ausschlaggebend dafür, dass die Linke unter die 5%-Hürde rutschte:

Auch in den «Hochburgen», den Unistädten, musste die Linke bittere Verluste hinnehmen. In der Fläche sanken die Ergebnisse teilweise unter 2%, wobei auch dort weiterhin Wahlbezirke vor allem in Ortszentren und dichten Wohngebieten Ergebnisse in Größenordnungen der Großstädte auswiesen (Marbach Rathaus 7%, Rathaus Steinheim 6%).

In den Mittelstädten wie Waiblingen, Esslingen, Gmünd lagen die Ergebnisse zwischen 2,9% in Böblingen und 4,1% in Ludwigsburg.

Die kommunale Verankerung in Gemeinderäten hat sich offenbar nicht bremsend auf die Verluste ausgewirkt. Nur in Freiburg waren die Verluste etwas geringer (-4,3% auf 6,9%) und das Ergebnis landesweit am besten. Wenig ausgewirkt hat sich auf die Rückgänge (bei den Zweitstimmen) offenbar auch die Präsenz eines/einer linken Abgeordneten, obwohl damit in diesen Wahlkreisen ein besonders engagierter Wahlkampf verbunden war (Stuttgart I -4,1 auf 5,2, Mannheim -4,1 auf 5,0, Reutlingen -2,8 auf 3,3, Tübingen -4,4 auf 5,2).

    Ich hab das schon immer gesagt

Bei der Analyse wird man verschiedene Ebenen auseinanderhalten unterscheiden müssen:

  1. Grundlegende Trends wie Personalisierung, Flexibilisierung der Wählerinnen und Wähler
  2. Die Wahlstrategie
  3. Der Zustand und die Außenwirkung der Partei (Alterungsprozesse, Fraktionierung…)

Wenn die nun notwendige Diskussion mehr sein soll als die Bestätigung dessen, was man «immer schon gesagt» hat, müssen Meinungen von Belegbarem unterschieden werden: So hat NRW überdurchschnittlich verloren (mehr als die Hälfte), was auch den Anhängern von Sahra Wagenknecht zu denken geben sollte. Andererseits spielen Promis im Wahlkampf eine große Rolle. Die Verluste in Ländern mit linker Regierungsbeteiligung waren zwar ebenfalls erheblich, aber unterdurchschnittlich (Thüringen -5,3% auf 11,4%, Bremen -5,7% auf 7,7%). In Berlin konnten Verluste von 7,3% auf nun 11,4% nicht durch das doch erfolgreiche Engagement in der Mieterbewegung verhindert werden.

Es lässt sich aus dem Wahlergebnis also kein Beleg für eine einseitige Bewegungsorientierung ableiten noch für ein Allheilmittel Regierungsbeteiligung, die von 94% unserer Wähler befürwortet wird. Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, ob die Linke in dieser Frage taktisch richtig agiert oder sich zu spät oder zu sehr «angebiedert» hat. Dies zu diskutieren ist nicht Thema dieser Auswertung.


    Themen und Kompetenz

Die Linke kommt hier nicht vor.

Anders als 2017 ist es ihr nicht gelungen, bei der Bundestagswahl mehr Wähler zu mobilisieren als bei der LT-Wahl, wo man ihr als landespolitisch wenig profilierte Partei «weniger zutraut», d.h. wo landesspezifische Kompetenzzuschreibungen mau sind. Dies traf nun auch auf die BT-Wahl zu:

Zwar ist soziale Gerechtigkeit im Selbstverständnis der Partei ebenso wie Friedenspolitik zentrales Thema – und auch für etwa die Hälfte der Wählerinnen und Wähler entscheidend – doch die der Linken zugebilligten Kompetenzen sind kontinuierlich gesunken von 18% (2018) auf 9% (im Mai waren es übrigens noch 14%), während die SPD ihre Werte auf fast 43% verdoppelt hat. (https://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Themen_im_Ueberblick/Wirtschaft_und_Soziales/; ähnlich die Nachwahlbefragung von Infratest dimap)


Was mit Kompetenz positiv gemeint ist, zeigt gerade der Erfolg der sonst eher uninteressanten KPÖ in Graz, die bei der Gemeinderatswahl 29% erreichte. Das Vertrauen beruht u.a. auf dem erfolgreichen Bauprogramm des früheren Wohnungsstadtrats (1998-2005) Ernest Kaltenegger. (nd 28.9.21)

Gleichzeitig ist es Scholz gelungen, mit einem eher linken Wahlprogramm in großem Umfang Wählerinnen und Wähler von der Linken «zurückzuholen» – brutto 820.000, netto 590.000, nur 1.300.000 haben sie wiedergewählt. Grundlage sind sehr hohe «Kompetenzwerte», die Menschen trauen der SPD wieder zu, das durchzusetzen – und der Linken nur in erheblich geringerem Umfang, obwohl des ihr Kernthema ist.


Die SPD hat dieses Votum für «zwölf Euro Mindestlohn, eine soziale Wohnungspolitik, gerechten Klimaschutz und mehr Gemeinwohl bekommen», so Kevin Kühnert. Die höheren Steuern für Reiche hat er angesichts der Koalitionsgespräche mit der FDP diplomatischer Weise schon weggelassen.

«Der Mindestlohn hat für viele (nicht nur, E.) im Osten nun das tief eingefräste Bild der SPD als Hartz-IV-Partei übermalt», schreibt die taz. Klar ist: die SPD ist es gelungen die Agenda-Enttäuschungen, von denen die Linke profitierte, nach fast einer Generation zwar zu überwinden, wird aber an diesen Versprechungen gemessen werden.  

610.000 wanderten zu den Grünen ab, die in der Klimapolitik über einen ähnlich hohen Vertrauensvorschuss (Kompetenzzuschreibung) verfügen wie die SPD in der Sozialpolitik. Obwohl Linken-Wählern das Thema sehr wichtig ist und es im Wahlkampf stark angesprochen wurde, ebenso wie das Versagen der grüngeführten Landesregierung etwa beim Windkraftausbau, wird der Linken in der Klimapolitik wenig zugetraut.

    Notorisch zerstritten?

Die SPD hat ihren Stimmenanteil der Landtagswahl im März von 11% auf 21,6% bei der BT-Wahl mehr als verdoppelt und auch im Vergleich zur BT-Wahl 2017 5 Punkte zugewonnen.

Die Grünen haben zwar im Vergleich zur BT-Wahl 2017 von 13,5 auf 17% zugewonnen, aber im Vergleich zur LT-Wahl mit 32,6% seit März fast die Hälfte ihrer Stimmen verloren.

Das Wählerverhalten ist also «volatiler und situativer» (taz), kann sich also schnell wieder wenden.

Damals war für die Grünen Kretschmann der Stimmenbringer, diesmal Scholz («Kanzler für Deutschland») für die SPD. Die Ergebnisse spiegeln also vor allem auch den immer wichtiger werdenden Prozess der Personalisierung der Politik in einer Mediengesellschaft.


Zunehmend hängt die Wahlentscheidung von Führungspersonen ab, die in den Augen der Wählerinnen und Wähler Lösungskompetenz «verkörpern» – besonders in Umbruch- und Krisenzeiten.

Kevin Kühnert, gerade noch Gegner von Scholz Wahl zum Parteichef, beschrieb die SPD als «in sich ruhende Partei, die Entscheidungen in Einigkeit herbeiführt». Scholz wurde, so der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder, als «verträglich und berechenbar» wahrgenommen. (taz 29.9.21)

Ganz anders die «zerrissene Linkspartei» (Albrecht von Lucke), deren populärste Politikerin Wagenknecht im Vorwahlkampf einen Bestseller herausbrachte, der erneut zu erheblichen Kontroversen und einem Ausschlussantrag führten. Ihr Vorwurf, dass sich «die Linke nicht mehr für Arbeiter und Arbeitslose einsetzt» ebenso wie respektlose Bemerkungen über benachteiligte Minderheiten, wurde jedenfalls durch alle Medien kolportiert und blieb hängen. Es entstand ein Glaubwürdigkeitsproblem nach zwei Seiten. Ihr einziger OB Rene Wilke warnte vor einer Koalition mit der unzuverlässigen Partei, während Parteivorstandsmitglieder generell gegen einen Kurs auf ein RRG-Bündnis mobil machten.

Nach Katja Kipping und Bernd Riexinger konnte auch die neue Parteiführung «den Eindruck einer notorisch zerstrittenen Partei» (Spiegel) nicht loswerden, auch wenn sie ihn etwas eingrenzte und «zivilisierte». Es bleibt eine nach außen negativ wirkende «mangelnde Ambiguitätstoleranz» in der innerparteilichen Diskussion, der es nicht gelingt, vorhandene («objektive»!) Widersprüche auszuhalten (und nicht moralisch zu überhöhen), geschweige denn, sie produktiv zu nutzen.

    Protestpartei?

Die Linke hat vor allem an die SPD verloren (und nur wenig gewonnen), in etwas geringem Umfang an die Grünen, in der Summe etwa eine Million Wählerinnen und Wähler. Erkennbar ist in der Stellung von Scholz ein Wunsch nach Veränderung in Stabilität. Es gab keine Wählerwanderung nach links. Auch die MLPD und die DKP haben ihr Ergebnis halbiert. Es gibt keine Hinweise, dass durch mehr Verbalrhetorik die Verluste der Linken hätten vermieden werden können. Die Krise der Linken scheint auch damit zusammenzuhängen, dass sich die Gründungsimpulse als Anti-Hartz-4-Partei erschöpft haben und sie strategisch «nicht beantworten kann, was nach dem Protest kommt.» (Moritz Kirchner)


    Corona

Eher zeigt der Erfolg der FDP bei jungen Leuten einen Trend zu dem, was Nancy Frazer «progressiven Neoliberalismus» nennt, der aktuell unterfüttert wird durch die Ablehnung von Corona-Maßnahmen unter den Stichworten «Selbstverantwortung» und «Freiheitsrechte».

Auch «Die Basis», manchmal durchaus unter Beteiligung früherer Linken-Mitglieder, hat mit 1,9% von dieser Stimmung profitiert und in BW immerhin 2/3 des Stimmenanteils der Linken erreicht. Die Linke selbst tat sich schwer, mit ihrer Forderung nach einer «solidarischen Krisenbewältigung» in der Pandemie überhaupt gehört zu werden und einen über die Gleichsetzung von Skeptikern mit Nazis hinausgehenden Kurs zu finden.

    Wählerverhaltens schwankt schnell, Momentstimmungen werden wichtiger

Es ist bitter, dass das völlige Scheitern des BW-Einsatzes in Afghanistan von der Linken nicht genutzt werden konnte. Vielmehr wurde das Abstimmungsverhalten im Fall der Evakuierungen aus Kabul noch medial gegen die Linke gedreht, vor allem von den Grünen, die sich so aus ihrer Verantwortung für den Einsatz stehlen konnten. Ob die linke Enthaltung «missverstanden werden musste» oder nur so dargestellt wurde, ist im Ergebnis nicht entscheidend – die Linke konnte ihren Schwerpunkt Friedenspolitik nicht in Wählerstimmen umsetzen.

Die massiven Rückgänge der Grünen auch im Vergleich mit den Prognosen im Mai zeigen aber auch, wie schnell sich Stimmungen ändern können, die Parteienbindung wird immer schwächer, Medien pushen Nebenthemen in die Aufmerksamkeit.

Insofern ist klar, dass die Linke nicht im Keller stecken bleiben muss, sondern, als einzige Opposition von Links, in den nächsten Jahren eine wichtige Rolle spielen kann, wenn ihr ein Erneuerungsprozess gelingt, der ihre Attraktivität erhöht.

    Zum Weiterlesen:

Horst Kars, Die Wahl zum20. Deutschen Bundestag am 26.September 2021. Wahlnachbericht

Janis Ehling, Merkel 2.0 – Kampf um die Mitte

Moritz Kirchner, Warum die Linke bei der Bundestagswahl so abgestürzt ist

Daten: Statistisches Landesamt

Grafiken: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2021-09-26-BT-DE/umfrage-aktuellethemen.shtml

https://www.dgb.de/themen/++co++79fb7b60-1f79-11ec-88c8-001a4a160123