Publikation «Nie wieder» - Rede der Gedenkkundgebung am 29.01.22

An der Gedenkstätte «Zeichen der Erinnerung» am Nordbahnhof Stuttgart

Information

Erhard Korn spricht anlässlich der Gedenkkundgebung zum Tag der Befreiung von Auschwitz am 29.01.2022 an der Gedenkstätte «Zeichen der Erinnerung» am Nordbahnhof Stuttgart. Foto: Roland Hägele

«Nirgendwo in zivilisierten Ländern
ist so wenig Grund zum Patriotismus
wie in Deutschland, und nirgendwo
wird von den Bürgern weniger Kritik
am Patriotismus geübt als hier, wo
er das Schlimmste vollbracht hat.»
Hinter der Fassade - Max Horkheimer 1959

Ansprache von Erhard Korn (stellvertr. Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg)

NIE WIEDER

1. Auschwitz war überall

Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee Auschwitz – doch passt das Wort «Befreiung»? Die sowjetischen Soldaten fanden vor allem Leichenberge vor. Und sie sahen wie heutige Besucher das Zeugnis des Grauens: Magazine und Waggons voll Haaren, Brillen, Koffern, Schuhen, Unterwäsche, Gebissen, Spielzeug.

Nur wenige tausend Gehunfähige waren vor den Todesmärschen zurückgeblieben, von denen ein großer Teil an Seuchen und Entkräftung starb. Nicht nur in Auschwitz, sondern auch direkt bei uns. In Vaihingen/Enz, wohin Ende 44 Auschwitz-Häftlinge für die Rüstungsproduktion gebracht wurden, in Sachsenheim, Leonberg, im Engelbergtunnel, in Stuttgart, wo KZ-Häftlinge Bombentrümmer beseitigen mussten. Auschwitz war am Ende des Krieges überall. Und es war auch in den Familien. Unsere Onkel, Väter rochen es, wenn sie an die Ostfront fuhren. Und die jungen SS-Leute brachen beim Heimaturlaub zusammen, wenn sie unseren Großeltern erzählten, wie die Juden Gräben ausheben mussten und dann hineingeschossen wurden, auch Frauen und Kinder. Wie sich die Erde noch bewegte, die sie darüber schütteten.

Ein NS-Landrat beschwerte sich 1944 über den Einsatz der ausgemergelten jüdischen Arbeitskräfte: «Der antisemitische Gedanke wird durch den Einsatz der Juden bei den Volksgenossen auf keinen Fall gefördert: Sie erregen nur Mitleid. Das Beste wäre, die Juden wieder abzuziehen und sie in einem KZ-Lager ihren Bestimmungen zuzuführen, aber so, dass die Bevölkerung nichts davon sieht.» Das System Auschwitz war auf diesem Hintergrund so etwas wie eine Rationalisierung des Massenmords, weit weg im Osten dazu, und möglichst nicht ausgeführt von «Reichsdeutschen», sondern von speziell angeworbenen «Fremdarbeitern».

Das System Auschwitz folgte auf die Misshandlungen und Vertreibungen der jüdischen Bevölkerung.  1. Dezember 1941 verließ ein erster Deportationszug mit fast 1.000 Juden den Stuttgarter Nordbahnhof, an dem wir gerade stehen, Richtung Lettland («Jungfernhof» bei Riga). Systematische Tötungen begannen mit dem Krieg und betrafen 1940 in Grafeneck bei Reutlingen zuerst Behinderte, lebensunwertes Leben, nach der menschenfeindlichen Logik des NS, der härtesten Form des Konkurrenzdenkens, dessen, was Wilhelm Heitmeyer «rohe Bürgerlichkeit» nennt. Nicht umsonst hat der Stuttgarter Sozialist Willi Bleicher aufgrund seiner Erfahrungen im KZ-System diesem «homo homini lupus est» sein solidarisches «dass der Mensch dem Menschen ein Helfer sein» entgegengestellt.

2. Holocaust als Endkampf

Meine Mutter konnte als 12-jähriges Mädchen im Herbst 1944 in Piliscsaba/Ungarn an der Straße von Budapest nach Wien zusehen, wie die ungarischen Juden mit Peitschen und Gewehrkolben fortgetrieben wurden, und wer entkräftet liegen blieb, wurde erschossen oder erschlagen und blieb im Straßengraben liegen. In Hegyeshalom übergaben die ungarischen Gendarmen 50.000 Menschen an die SS und die Organisation Todt, die Juden sollten an der Grenze einen Südwestwall gegen die vordringende Rote Armee bauen.
Der Reichskommissar für Ungarn Veesenmayer hatte am 10.12.43 gefordert:

«Das Reich […] kämpft heute seinen Existenzkampf und ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich mit zunehmender Härte des Krieges auf die Dauer den Luxus leisten kann, ein solches Zentrum der Sabotage (die Juden galten in der Dolchstoß-Legende als schuld an der Niederlage im Krieg, EK) unberührt zu lassen. Es eröffnet sich hier für die Politik des Reiches eine dankbare und zwingende Aufgabe, indem sie dieses Problem (die Juden, EK) anpackt und einer Bereinigung zuführt.»

Noch von Mai bis Juli 1944 wurden rund 438.000 Jüdinnen und Juden unter Leitung von Adolf Eichmanns («Eichmann-Kommando» von 150 Personen) nach Auschwitz-Birkenau deportiert, 120.000 bei Pogromen umgebracht, nach dem Putsch der antisemitischen, faschistischen und erzkatholischen Pfeilkreuzler, an die die Neonazis in Ungarn heute wieder anknüpfen wollen.

3. Der «Holocaust» war Teil der Kolonialpolitik

Das deutsche Kolonialkonzept richtete sich seit dem Ersten Weltkrieg auf die Gewinnung von «Lebensraum im Osten», wie Hitler in Mein Kampf angekündigte:

«Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.»

Der Generalplan Ost setzte dies planerisch um und zielte auf die Vertreibung oder Versklavung der slawischen und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, den europäischen Osten als Ressource für deutsche Weltherrschaft. In der Logik des NS war das «internationale Judentum“ verantwortlich für die Niederlage im Ersten Weltkrieg, Träger «des Marxismus», des internationalen Sozialismus und damit Todfeind des als «nationaler Sozialismus» auftretenden deutschen Imperialismus. Seine Ausschaltung galt als Voraussetzung für den Erfolg des Zweiten Weltkriegs.

«Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.» So Hitler am 30.1.39 im Reichstag.

Nach Kriegsbeginn verkündete Hitler vor seinen Reichs- und Gauleitern am 12. Dezember 1941 in der Alten Reichskanzlei, warum er sich entschlossen habe, «bezüglich der Judenfrage (...) reinen Tisch zu machen». Goebbels hat in seinem Tagebuch die entscheidenden Sätze überliefert:

«Er hat den Juden prophezeit, dass, wenn sie noch einmal einen Weltkrieg herbeiführen würden, sie dabei ihre Vernichtung erleben würden. Das ist keine Phrase gewesen. Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein.»

Bei der Wannseekonferenz vor 80 Jahren am 20. Januar 1942 schreibt der Buchhalter Adolf Eichmann nicht nur das Protokoll, er regelt auch inhaltliche Vorbereitung und dann den praktischen Ablauf der «Endlösung».

4. Rückkehr ins Feindesland

Wenn man von Auschwitz redet, muss man auch von dem Stuttgarter Sozialisten Fritz Bauer sprechen, der hier EBeLu-Gymnasium besucht hatte, 1930 Amtsrichter in Stuttgart wurde und 1933 selbst für Monate im KZ misshandelt wurde, bevor er floh. 1949 kehrte er zurück, 1963 führte er als hessischer Generalstaatsanwalt den Auschwitzprozess. Unterstützt wurde Bauer durch die damals gegen viele Widerstände neu geschaffene die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Einer der Hauptangeklagten war übrigens Wilhelm Boger aus Zuffenhausen, nicht weit von hier, der Erfinder einer Foltermethode Boger-Schaukel. In dem lesenswerten Buch über die Stuttgarter NS-Täter wird er beschrieben.

Wenn Bauer sein Amtszimmer verlasse, so erzählte er Freunden, betrete er Feindesland. So ist es im Stuttgarter Rathaus offenbar auch der Stadtarchivarin Maria Zelzer gegangen, die zu dieser Zeit ihr Standardwerk über das Schicksal der Stuttgarter Juden veröffentlicht hat. Im Rathaus, den Gerichten, den Polizeidienststellen, den Chefetagen von Daimler saßen ja die Funktionsträger des NS-Regimes, die Täter der ersten, zweiten oder dritten Reihe.

1952 führt Bauer den Prozess gegen Otto Renner wegen Verunglimpfung Verstorbener (die Attentäter des 20.Juli 44), Renner hat sich nicht ohne Deckung aus dem Justizapparat mehrmals ins Ausland abgesetzt, nach Rückkehr auch allen weiteren Verurteilungen entzogen. Daher gab Bauer Hinweise auf Aufenthalt von Adolf Eichmann, seit der Wannsee-Konferenz Organisator des Massenmords, an den israelischen Geheimdienst, und Prozess in Jerusalem 1961. Noch 1960 wurde verboten, Bauers Rede über die «Wurzeln faschistischen Handelns» an Schulen zu verteilen! Daher war der Auschwitzprozess 1963-1965 für Bauer «Unterrichtsstunde für uns alle» gegen das Verschweigen und Vertuschen durch das Adenauer-Deutschlands. Es war eine Unterrichtsstunde, die nachwirkte vor allem in der Jugend in den Gewerkschaften und den Hochschulen, der Bewegung von 68, von der die politische Kultur grundlegend verändert wurde.

Einen wichtigen Anteil daran hatte der ebenfalls hier in der Nähe in Zuffenhausen geborene Max Horkheimer, den der Einladungsflyer zitiert. Er wagte es übrigens 1960 nicht, den Text zu veröffentlichen.

5. Nie wieder

Wenn ich zu meinem Geburtsort Forchtenberg fahre, werde ich an der Autobahn durch Tourismuswerbung «Geburtsort von Sofie Scholl» empfangen. Die Geschwister Scholl haben spät, aber mutig Widerstand geleistet. Ihr Widerstand hat eingesetzt, als der Krieg verloren war und drohte, dass auf «die Todesmärsche der Juden aus Ungarn und der Insassen aus Auschwitz» «der Todesmarsch der Deutschen folgt» wie es Hitler angekündigt hatte. (so formulierte es Fritz Bauer).

In meiner Jugendzeit galten sie nicht nur im Geburtsort Forchtenberg als Vaterlandsverräter. Und «Ihr gehört vergast» wurde uns jungen Antifaschisten zugebrüllt von Leuten, die behaupteten, es habe keine Gaskammern gegeben. Aus diesen Widersprüchen haben wir gelernt – in der Auseinandersetzung. Aber schon Horkheimer, hat darauf verwiesen, dass es eine Art Antifaschismus «als Alibi» gibt und Adorno befürchtete 1959, dass das Nachleben des NS in der Demokratie gefährlicher ist als der offene Faschismus gegen die Demokratie. Wir lasen Horkheimer als Raubdruck und blieben an Sätzen hängen wie «Der neue Antisemitismus ist der Sendbote der totalitären Ordnung, zu der die liberalistische sich entwickelt hat. Es bedarf des Rückgangs auf die Tendenzen des Kapitals. Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.» Diese 1939 geschriebenen Sätze wollte er 1960 nicht wieder veröffentlichen.

Auf den Straßen sieht man heut wieder Judensterne am Revers, «Impfen macht frei» steht auf Plakaten von Impfgegnern – auch von solchen aus dem neofaschistischen Spektrum. Eine Relativierung und Verharmlosung des Holocaust verbindet sich heute mit antisemitischen Verschwörungstheorien und mit einem mobilisierbaren Hass. Auch der neue Faschismus etwa in der AfD kommt aus der Mitte der Gesellschaft, aus der rohen Bürgerlichkeit, wie Heitmeyer jenes egoistische Denken nennt, das andere zu Menschen zweiter Klasse erklärt. Doch der neue Faschismus tritt nicht auf im braunen Hemd der SA, sondern in den sozialen Medien, nicht mit dem Ruf nach einer Endlösung, sondern als Verteidiger der Freiheit.

Ein nur moralisches Gedenken kann einlullen. Denn Auschwitz kann sich nicht einfach wiederholen. Vor neuen Formen eines barbarischen Faschismus aber sind wir nicht geschützt. Es bedarf einer hellen Wachsamkeit. Auch gegen jene patriotischen Lügen, die stets die Kriege vorbereiten – und die Massaker hinter den Linien.