Von den Franzosen lernen
Immer mehr Kommunen klagen über knappe Kassen. Weil das Geld fehlt, werden Bus- und Bahnangebote ausgedünnt: Takte werden ausgedünnt, manche Linien am Wochenende gestrichen, andere ganz eingestellt. Geplante Anschaffungen von Bussen und Straßenbahnen werden storniert, bestehende Planungen auf Eis gelegt. Dafür werden in vielen Städten die Fahrpreise erhöht. Betroffen sind vor allem Städte im Osten der Republik wie Potsdam, Dresden oder Chemnitz. Aber auch wohlhabende Bundesländer wie Baden-Württemberg oder und Bayern bleiben von diesen ÖPNV-Einsparungen nicht verschont: Heidelberg will kürzen, Karlsruhe plant Streichungen in Millionenhöhe. Nürnberg plante Kürzungen um 1,4 Millionen. Nach Protesten wurden es dann 800 000 Euro. 1)
Hilfloses Jammern der Bürgermeister
Klar ist: Den Kommunen in der BRD fehlt das Geld - an allen Ecken und Enden. Auf einer Tagung des baden-württembergischen Städtetags erklärten die Bürgermeister: «Wir sind am Ende unserer Möglichkeiten». Regelmäßig formulieren sie Appelle an Bund und Länder, die Kommunen finanziell besser auszustatten. Diese Appelle werden nicht mit großem Nachdruck vorgetragen. Wenn die Kolleg*innen und Kollegen in Bund und Ländern auf ihre eigenen «Sachzwänge» verweisen, fällt den Bürgermeistern in der Regel nicht mehr viel ein. Ihr politischer Horizont ist von den Scheuklappen neoliberalen „Sachzwangs“ und bürgerlicher «Staatsraison» eingeengt. Dabei sind die als Gründe für die Sparpolitik bemühten Gründe nicht „gottgemacht“ und auch nicht «naturgegeben». Die potentiellen finanziellen Mittel zur Lösung der allseits beklagten finanziellen Engpässe sind in einer reichen Gesellschaft wie der Bundesdeutschen vorhanden. Was fehlt. Ist der politische Wille, die Mittel dort zu holen, wo sie sind.
Von den Nachbarn lernen…
Auch wenn es in Frankreich in vieler Hinsicht ziemlich düster aussieht. In Sachen Nahverkehr kommen aus Frankreich kaum Horrormeldungen. Im Gegenteil. Es gibt erstaunlich viele positive Nachrichten. Seit Dezember 2023 müssen die 500.000 Einwohnerinnen und Einwohner von Montpellier nichts mehr für den Nahverkehr bezahlen. Dort wurde der Nulltarif eingeführt. Damit ist Montpellier die größte französische Stadt mit Nulltarif im ÖPNV. Es löst Dünkirchen ab, wo bereits im September 2018 der Nulltarif eingeführt wurde. In Dünkirchen scheint das offizielle Ziel, das lautete, «die Leute wieder in die Busse zu bringen», erreicht worden zu sein. Laut einer Studie, die wenige Monate nach Einführung des kostenlosen Nahverkehrs erstellt wurde, hat das Projekt zu einer Reduzierung der Autofahrten geführt: Die Hälfte der Befragten sagten, sie würden nun viel öfter den Bus nutzen als zuvor. Etwa fünf Prozent der Befragten äußerten sogar, sie hätten aufgrund der kostenlosen Busse entweder ihr Auto verkauft oder sich gegen den Kauf eines zweiten Autos entschieden. 2) Andere französische Kommunen berichten von ähnlichen Entwicklungen. Mitte 2024 gibt es über 30 französische Städte, die den öffentlichen Nahverkehr komplett kostenlos anbieten.3)
Nahverkehrssteuer «Versement Transport»
Diese französische Erfolgsgeschichte steht in engem Zusammenhang mit der «Versement Transport», der französischen Nahverkehrsabgabe. Diese französische Steuer entstand 1971 aus einem Pilotprojekt in Paris und wurde 1973 auf die Provinzen ausgeweitet. Die Einnahmen aus der Transportsteuer müssen von den Gemeinden zweckgebunden zur Finanzierung des ÖPNV verwendet werden. Es steht ihnen jedoch frei, ob sie damit den laufenden Betrieb finanzieren oder die Mittel für Investitionen aufwenden.
Alle französischen Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnerinnen und Einwohnern haben die Möglichkeit, diese Abgabe einzuführen. Alle öffentlichen und privaten Arbeitgeber mit elf oder mehr Beschäftigten sind von dieser Abgabe betroffen. Die Höhe der Abgabe kann innerhalb bestimmter Grenzen von der Kommune selbst festgelegt werden. Für Gemeinden mit weniger als 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern liegt der Höchstsatz bei 0,55 Prozent, für Gemeinden mit mehr als 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern bei 1,05 Prozent der Lohnsumme je Beschäftigten. Wird ein Eisenbahnsystem auf einer eigenen Trasse angeboten oder sind Baumaßnahmen für ein solches System geplant, kann die Verkehrsabgabe auf bis zu 1,75 Prozent der Lohnsumme angehoben werden. Als eigene Trasse gelten schienengebundene Systeme wie U-Bahnen, Straßenbahnen, aber auch Busbetriebe. Einzige Ausnahme ist die Region Paris, wo der Steuersatz derzeit 2,6 Prozent % beträgt. Nahezu alle berechtigten französischen Kommunen ab einer Einwohnerzahl von 20.000 machen inzwischen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Sie hat sich mittlerweile zu einer zentralen Finanzierungssäule des ÖPNV in den französischen Städten entwickelt. Im Jahr 2021 macht die Nahverkehrsabgabe mit rund neun Milliarden Euro fast die Hälfte des Budgets der kommunalen Verkehrsverbünde aus und ist damit deren wichtigste Einnahmequelle.
Renaissance der Straßenbahn
«Die finanziellen Möglichkeiten, die den ÖPNV-Aufgabenträgern mit dem ‹Versement Transport› zur Verfügung stehen, sind sicherlich ein ganz entscheidender Impuls für die Renaissance des schienengebundenen Nahverkehrs in Frankreich», schreibt Christoph Groneck, einer der besten Kenner des ÖPNV in Frankreich. 4) 1970 gab es in ganz Frankreich nur noch in drei Städten Straßenbahnen. Mit den Einnahmen konnten in allen französischen Großstädten, die die Abgabe einführten, neue oberirdische Straßenbahnsysteme gebaut werden.
Die Geburtsstunde der modernen französischen Straßenbahn schlug Anfang der 1980er Jahre. 1983 wurde in Saint Etienne die erste französische Straßenbahn nach dem Zweiten Weltkrieg in Betrieb genommen. Es folgten bald drei neue Systeme in Nantes, Grenoble sowie in den Pariser Vororten Saint-Denis und Bobigny. 1984 wurde mit der Einführung der Straßenbahn in Straßburg ein richtungsweisendes System geschaffen, das national und international große Anerkennung fand. Es sei gelungen, so heißt es, die Straßenbahn perfekt in das städtische Umfeld zu integrieren. Straßburg wurde zum Vorbild für zahlreiche andere französische Städte, die seitdem neue Straßenbahnsysteme eingeführt haben. Die französischen Straßenbahnen wurden weltweit Vorbilder bei der Planung von Straßenbahnsystemen. Nur in Deutschland scheint sich das noch nicht herumgesprochen zu haben. 5)
Es gibt allerdings keinen Grund, Frankreich zu idealisieren. Die positive Entwicklung des ÖPNV gilt vorwiegend für die Städte. In der Fläche ist der ÖPNV nach wie vor dramatisch unterentwickelt.
Resumé
Eine Nahverkehrsabgabe wie die «Versement Transport», ist sicherlich kein Allheilmittel für die Verkehrswende, adressiert jedoch ein zentrales Problem, nämlich die Unterfinanzierung des ÖPNV. Mit einer derartigen Abgabe wäre die Anschaffung neuer Straßenbahnen und Busse, die Einstellung zusätzlicher Fahrer*innen und Fahrer und eine deutliche Verbesserung der Fahrpläne finanzierbar.
Eine solche Nahverkehrsabgabe würde zudem nicht die breite Mehrheit der Bevölkerung belasten, sondern die Unternehmen und Arbeitgeber. Eine Nahverkehrsabgabe à la Française hätte auch in der BRD das Zeug zu einer populären Forderung im Kampf um eine Mobilitätswende.
Das Problem hierzulande ist, dass es an Akteuren fehlt, die das Thema unters Volk bringen. Für die Partei Die Linke wäre dies eine Möglichkeit, in der Verkehrspolitik mit leicht verständlichen und nachvollziehbaren Vorschlägen zu punkten, die einen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leisten und gleichzeitig den sozialen Anliegen breiter Bevölkerungsschichten Rechnung tragen.
Anmerkungen
- Alicia Kohl, Weitreichende Streichungen bei VAG-Buslinien abgewendet? www.nordbayern.de/franken/nuernberg/weitreichende-streichungen-bei-vag-buslinien-abgewendet-entscheidung-im-stadtrat-gefallen-1.14512260
- Siehe Burak Ünveren, Die Null-Euro-Tickets von Europa www.dw.com/de/nahverkehr-in-europa-null-euro-tickets-auf-dem-vormarsch/a-62021450
- Eine Liste findet sich unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Kostenfreier_Nahverkehr
- Siehe Christoph Groneck, Die moderne französische Straßenbahn, in: Informationen für Raumentwicklung“ Heft 4/2016)
- siehe diverse Veröffentlichung von Christoph Groneck
Paul Michel (Netwerk Ökosozialismus). Artikel zunächst veröffentlicht in Soz Nr. 03/2025. Wir danken für die Erlaubnis der Wiedergabe.
Online-Veranstaltung zum Thema mit Paul Michel: 11.04.2025, 18:00 Uhr - Nahverkehrssteuer für besseren ÖPNV: Von den Franzosen lernen?