Nachricht | Friedrich Westmeyer: Abgeordneter - Sozialist - Stuttgarter Linker - Antimilitarist. Zu seinem 100. Todestag

Vor 100 Jahren starb Friedrich Westmeyer, eine bedeutende Führungspersönlichkeit der Stuttgarter Linken.

Friedrich Westmeyer (*14. Januar 1873 in Osnabrück; † 14. November 1917 in Rethel) Image created by Berkan [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)], via Wikimedia Commons

Von den Parteibürokraten gehasst, von den Arbeitern geliebt
Zum 100. Todestag von Fritz Westmeyer
14.11.2017, Erhard Korn*

Vor 100 Jahren starb Friedrich Westmeyer, eine bedeutende Führungspersönlichkeit der Stuttgarter Linken. Wie viele andere hat Stuttgart den Kriegsgegner und vorbildlichen Landes- und Kommunalpolitiker «vergessen». Der Landtagsabgeordnete und Stadtrat war im August 1917 wie viele andere Kriegsgegner aus dem Kreis der oppositionellen Sozialisten um Liebknecht, Luxemburg und Zetkin eingezogen worden, um die Antikriegsbewegung kopflos zu machen.

In seinem letzten Brief schrieb er:

«Angesichts des ungeheuren Jammers, den dieser Krieg über alle Völker gebracht hat, erfüllt es mich immer wieder mit schmerzlicher Genugtuung, dass wir in Stuttgart uns Hand und Gewissen rein gehalten haben von dem vergossenen Blut. Aber Schande den Burschen, die alles verleugneten, was sie 40 Jahre lang als ihre ‚Überzeugung´ dem Volk gepredigt.»

Der Gewerkschafter aus dem Verband der Holzarbeiter und begabte Journalist Westmeyer war 1905 nach Stuttgart gekommen, um als Redakteur in der Zeitung  der Stuttgarter Arbeiterbewegung, der «Schwäbische Tagwacht» schreiben. Deren Redakteur Wilhelm Keil entwickelte sich als Landesvorsitzender zum Repräsentanten des königstreuen, Fritz Westmeyer als Vorsitzender des Stuttgarter Ortsverbands (ab 1906) zum Repräsentanten des radikalen Parteiflügels im Württemberg, der seinen Rückhalt in der Arbeiterschaft der aufstrebenden Industriestädte hatte.

Hier war die Wohnungsnot eines der größten Probleme für die Arbeiterschaft. 1911 griff er sie anlässlich des Gemeindewahlkampfs die in einer Broschüre «Wohnungselend in Stuttgart» auf. Die Schrift entfaltete ihre Wirkung dadurch, dass dokumentarische Fotos die Aussagen belegten – für die damalige Zeit, in der Zeitungen nur aus Text bestanden, eine revolutionäre Ausnutzung neuer Medien. Ergänzt wurde die Mobilisierung durch Lichtbildvorträge in den Stadtteilen, die das Wohnungselend dokumentierten. Gegen die «Terrainspekulanten» verweis Westmeyer darauf, dass der Boden «Erbschaft des ganzen Menschengeschlechts sei». Die Gemeinden verwies er auf ihre Pflichten zum Wohnungsbau.

Im Zentrum seiner Tätigkeit stand die Stärkung der Parteistrukturen. Dazu gehörte für ihn vor allem die politische Bildung und der Aufbau eines Vertrauensleutesystems. Westmeyer förderte die Gründung von Waldheimen nicht nur als Erholungsorte der Arbeiterschaft, sondern auch als kulturelle Zentren, in denen sich Arbeiterklasse bilden kann. 1908 entstand das Waldheim Heslach, 1909 initiierte er die Gründung des Vereins Waldheim Stuttgart und des Waldheimes Sillenbuch mit Unterstützung von Friedrich und Clara Zundel in der Nähe von deren Wohnhaus und 1910 Gaisburg.

Westmeyer setzte nicht nur auf parlamentarische Absprachen, linke Ziele waren für ihn nur durchsetzbar durch die Mobilisierung der Arbeiterschaft. Er wirkte als Organisator des großen Bosch-Streiks von 1913, der dazu führte, dass Bosch die Unterstützung der SPD einstellte.

Die sozialdemokratische Stadtratsfraktion allerdings war nicht bereit, der radikaleren Partei mehr Einfluss zuzubilligen und verhinderte 1910 durch Tricks Westmeyers Wahl in den Stuttgarter Gemeinderat. Erst 1915 rückte er nach. Zu massiven Auseinandersetzungen, in die sich sogar Bebel und Luxemburg einmischten, kam es 1911, da sich der sozialdemokratische Oberbürgermeisterkandidat Lindemann weigerte, für den Fall seiner Wahl die Parteibeschlüsse zu beachten. Im Kern ging es dabei um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Sozialdemokraten politische Verantwortung in einem monarchistisch-bürgerlichen Staat übernehmen dürfen.

Die Auseinandersetzungen kumulierten im «Tagwacht-Streit» um die Linie der Parteizeitung, die damals immerhin über 22.500 Abonnenten hatte. Westmeyer musste wie Keil die Redaktion verlassen, doch schon 1914 zeigte sich, dass die verbliebenen und neuen Redakteure den linken Kurs der Zeitung stärkten. Der Landesvorstand der SPD schwenkte sofort nach Kriegsbeginn auf die Linie Hurrapatriotismus ein, während die Redaktion einen kriegskritischen Kurs beibehielt. Am 5.11. wurde sie satzungswidrig gekündigt und ausgesperrt. Der Stuttgarter Ortsverein um Westmeyer -von 1912-1917 war er Vertreter Stuttgarts im Landtag- nahm das nicht hin, lud sogar Karl Liebknecht ein, der später berichtete, dass er hier erstmals als nicht konsequent genug kritisiert worden war. Vor allem die marxistisch geschulten jungen Industriearbeiter wie Jakob Walcher und Fritz Rück hielten in Stuttgart an den linken Grundsätzen fest, unterstützt von Intellektuellen wie August Thalheimer, Hermann Duncker, Arthur Crispien und Clara Zetkin.

Die Landtagsfraktion spaltete sich 1915, faktisch auch die SPD in Württemberg, und nahm so eine Entwicklung vorweg, die auf Reichsebene erst 1917 mit der Gründung der USPD erfolgte. Ab Januar 1915 gab die «Westmeyer-Partei» auch eine eigene Zeitung heraus. «Der Sozialdemokrat» wurde bald zu einem wichtigen Mitteilungs- und Diskussionsorgan der sich neu sammelnden Linken. Westmeyer nutzte die Landtagssitzungen zur Kritik an der deutschen Eroberungspolitik und unterstützte die Vernetzung der linken Kriegsgegner. Er wurde 1915 von der SPD gekündigt, musste sich mit einem kleinen Tabakladen in der Marienstraße ernähren, der zum politischen Treffpunkt wurde.

Er wird politisch verfolgt und schließlich im Februar 1917 eingezogen. Während er im Schützengraben den Kopf hinhielt und bald an Ruhr erkrankte, feierte sein innerparteilicher Gegner Wilhelm Keil mit der Generalität den baldigen Sieg. Westmeyer starb mit 44 Jahren am 14.November 1917 in einem Feldlazarett bei Reims.
Rosa Luxemburg schrieb nach seinem unerwarteten: «Westmeyer ist ein großer Verlust. Ich dachte immer, er würde noch in großen Zeiten eine Rolle spielen.»

* Erhard Korn ist Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg