Nachricht | Marx200: «Wen bewegt Marx heute?» - Tagungsbericht

Am 5. Mai 2018 jährte sich der Geburtstag von Karl Marx zum 200ten Mal. Marx gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten Wissenschaftlern.

Am 5. Mai 2018 jährte sich der Geburtstag von Karl Marx zum 200ten Mal. Marx gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten Wissenschaftlern. Mit seinen kritischen politischen und ökonomischen Analysen hat er wesentlich zum Verständnis kapitalistischer Verhältnisse beigetragen. Zugleich begab sich Marx ins Getümmel der politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit und betätigte sich als Organisator an der Entstehung der Arbeiterbewegung. Die politischen Initiativen, die von ihm ausgingen, waren ein bedeutender Beitrag zur Demokratie in Deutschland. Sein theoretisches und praktisches Wirken übte prägenden Einfluss auf die Formierung und Entwicklung der Arbeiterbewegung aus - nicht zuletzt in Form der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. In der Stuttgarter Tagung  «Wen bewegt Marx heute?» blickten wir auf das Marx´sche Werk und Wirken in seiner politischen und kulturellen Bedeutung für die Organisierung der frühen Arbeiterbewegung als einer zugleich politischen, ökonomischen und kulturellen Emanzipationsbewegung.

 

Und es sollte gefragt werden, was dem, der es als seine Aufgaben annimmt, «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen  der Mensch ein erniedrigtes, ein  geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen», so das berühmte Zitat aus Marx´ Kritik der Hegel´schen Rechtsphilosophie, der ganz und gar nicht «tote Hund», der «Mohr», wie er von seiner lebenslangen Begleiterin Jenny von Westphalen liebevoll genannt wurde, heute noch zu sagen hat und welcher Arbeit an kritischer (Selbst-)Reflexion, Wiederaneignung und damit auch Rückgewinnung ursprünglicher Impulse einer an Marx anschließenden Praxis es hierfür bedarf.

 

Was also hat uns Marx heute zu sagen, wenn wir ihn sowohl als Theoretiker des Kapitalismus als auch als Praktiker der Überwindung des Kapitalismus und Mitorganisator der internationalen Arbeiterbewegung befragen, so fragte einleitend und die ca. 100 Konferenzteilnehmer*innen begrüßend der Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg Alexander Schlager. Was können wir von ihm lernen, wenn wir, gegen das Narrativ der «Alternativlosigkeit des Bestehenden» und dessen regressiver Infragestellung durch eine vermeintliche «Alternative» von ganz rechts außen, an der Erzählung einer «möglichen anderen Welt» weiter arbeiten und diese radikalisieren und konkretisieren wollen. Und wenn radikal für Marx heißt, die praktische Relevanz der Theorie ad hominem, also am Menschen, zu demonstrieren und wenn konkret für Marx heißt, den Menschen als sinnliches, als tätiges Wesen in der Mannigfaltigkeit seiner Weltbezüge zu fassen, dann heißt das, dass eine linke Erzählung, wenn sie denn «die Massen ergreifen will» dem gerecht werden muss und als integralen Bestandteil in sich enthalten muss, was Ernst Bloch einmal den Wärmestrom  genannt hat, also den Verweis auf das In-Möglichkeit-Seiende – wenn auch sicherlich dieses Bild nur mit skizzenhaften Pinselstrichen gezeichnet werden darf. Und diese Erzählung muss dann auch den Menschen als materiell-produzierendes und als sich kulturell und generativ reproduzierendes Wesen adressieren und eine sich auf Marx berufende Bewegung muss Arbeiterbewegung, Frauen- bzw. geschlechtersensible Bewegung, Kulturbewegung und politische Emanzipationsbewegung zugleich und gleichrangig sein.

 

Die Konferenz wurde eröffnet durch ein Grußwort des Vorsitzenden des DGB Baden-Württemberg Martin Kunzmann. Martin Kunzmann fragte, die Überschrift der Tagung aufnehmend, was Karl Marx wohl heute «bewegen» würde, um dann die momentanen Herausforderungen der Arbeitswelt und die ich hieraus ergebenden Aufgaben der Gewerkschaften zu bestimmen. So ginge es darum, den technologischen Wandel unter den heutigen Bedingungen, Stichwort «Industrie 4.0» und Digitalisierung im Interesse der Beschäftigten, aber auch der Verbraucher*innen und der Umwelt zu gestalten. Zunehmende Angriffe auf das Arbeitszeitgesetz fänden den entschiedenen Widerstand der Gewerkschaften, das was Marx als den «Kampf um den Arbeitstag» bezeichnete und dessen zugrunde liegenden Ursachen er als das Streben des Kapitalismus nach einer Erhöhung der Mehrwertproduktion in absoluter und relativer Weise analysierte, sei nach wie vor und mehr denn je aktuell. Angesichts einer Situation, in der nach Schätzung des DGB rund 40 Prozent der Arbeitsverhältnisse in Baden-Württemberg sog. «atypische» seien, gelte es, die Frage danach, wie eine humane Arbeitswelt heute aussehen könnte immer wieder neu zu stellen und zu beantworten. Gewerkschaftliche Organisierung sei hierfür unverzichtbar.

 

«Von Karl Marx zu Clara Zetkin: Stuttgart als Verlagszentrum der frühen Arbeiterbewegung und die dortige sozialistische Kultur- und Frauenbewegung» war der Beitrag von Erhard Korn, Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg, überschrieben. In seinem kurzweiligen, anekdotenhaften und die historische Situation der Arbeiterbewegung im späten 19. Und frühen 20. Jahrhundert in Stuttgart und Umgebung lebendig vor Augen führendem Beitrag zeigte er die Bezüge zwischen dem theoretischen Werk von Karl Marx und dessen Rezeption in den Organisationen der frühen Arbeiterbewegung, in Arbeiterbildungsvereinen und im sozialdemokratischen Verlags- und Pressewesen. Dass «Marx nach Stuttgart kam» und von dort den Weg in die Arbeiterbewegung im damaligen Deutschen Reich antreten konnte, hatte insb. mit dem Wirken des Verlages J.H.W. Dietz zu tun, desjenigen in Stuttgart ansäßigen Verlages, der u.a. mit seiner «Internationalen Bibliothek“ versammelte, was in Wissenschaft und Arbeiterbewegung der damaligen Zeiten Rang und Namen hatte. Die Zeitschrift «Die neue Zeit» wurde ab 1883 unter der langjährigen Leitung Kautskys zum führenden Theorieorgan der Arbeiterbewegung, Bebels «Bestseller» «Die Frau und der Sozialismus» stand in zahlreichen Arbeiterhaushalten. Die deutsche Übersetzung von Marx’ «Das Elend der Philosophie» erschien im Stuttgarter Verlag J.H.W. Dietz. Die Auswirkung der Entstehung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei für die Stuttgarter Region, die Jahre von Karl Kautsky und Clara Zetkin in Stuttgart, die Stuttgarter Arbeiterbildungsvereine und die Waldheimbewegung waren ein weiterer Schwerpunkt des Vortrags.

 

Im Themenblock «Klassenpolitik: Kämpfe um Umverteilung und Anerkennung» diskutierte zunächst Sybille Stamm, langjährige Landesleiterin von ver.di Baden-Württemberg und heute Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, über das Thema «Frauen und Reproduktionsarbeit» und stellte die Frage, ob in dieser Thematik ein «blinder Fleck des Marxismus» liege. In der Tat habe Marx und ein Großteil marxistischer Debatten durch die Konzentration auf die Analyse von Arbeit und Produktion dem Bereich der menschlichen Reproduktion, im generativen wie im kulturellen Sinne, und damit auch den Geschlechterverhältnissen zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Doch habe es bei Marx und Engels, insb. in den «Frühschriften» selbst bereits Ansätze gegeben, diese Themen auszuarbeiten, wenn etwa Engels in «Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates» schreibt, dass « [n]ach der materialistischen Auffassung das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens [ist]. Diese ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andrerseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit, andrerseits der Familie». Hieran habe insb. die Marxistin-Feministin Frigga Haug mit ihrem Konzept «Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse» angeknüpft, wonach Geschlechterverhältnisse nicht aus der Ökonomie «abgeleitet« werden können, sondern selbst Produktionsverhältnisse sind, die sich auf die Produktion des Lebens beziehen. Daher seien nicht nur Veränderungen der Arbeitsverhältnisse die Voraussetzung für die Transformation der Geschlechterverhältnisse, sondern gelte auch umgekehrt. Politisch ergeben sich hieraus Perspektiven einer gerechten Verteilung von Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesensarbeit und Entwicklungschancen, wie sie Frigga Haug in ihrer «Vier-in-einem-Perspektive» entwickelt hat.

 

Der Journalist und Publizist Sebastian Friedrich beschäftigtet sich mit der Frage, ob das Erstarken rechtspopulistischer Formationen wie der «Alternative für Deutschland» damit zusammenhänge, dass die Linke an Glaubwürdigkeit bei Arbeitern eingebüßt habe und ob eine Antwort hierauf in der Formulierung einer «neuen Klassenpolitik» liegen könne, die Klassenpolitik, Antirassismus und Feminismus neu verbinde. Er begann mit seiner Analyse des rechten Blocks in der Bundesrepublik, analysierte verschiedene Fraktionen dieses Blocks, deren Gemeinsamkeiten und mögliche Bruchlinien zwischen diesen. Dass es der «AFD» gelungen sei, die verschiedenen Fraktionen in ihrem Parteiprojekt zusammenzubringen, begründe ihre momentane Stärke. In letzter Zeit sei eine verstärkte Hinwendung zur «sozialen Frage“ festzustellen und der Versuch, diese «von rechts» zu besetzen, indem sie ethnifiziert und rassifiziert wird. Für linke Politik sei es daher heute umso dringlicher, das Deutungsmuster, wonach eine Politik der sozialen Gerechtigkeit sozial und inklusive sein müsse zu behaupten und den existierenden Gegensatz zwischen «Oben und Unten» in der politischen Auseinandersetzung zuzuspitzen. Hier sei eine «neue Klassenpolitik» gefragt, eine Klassenpolitik, die immer feministisch, antirassistisch und international sein müsse. Eine «neue Klassenpolitik» sei nicht auf betriebliche Auseinandersetzungen und gewerkschaftliche Organisierung  beschränkt, sondern umfasse Kämpfe um ein «Recht auf Stadt», Mieter*inneninitiativen, Stadtteilpolitik und vieles andere.

In der anschließenden Diskussion meldeten sich einige Betriebsräte und Gewerkschaftssekretäre zu Wort, die in ihren Beiträgen über die Versuche von Rechten berichteten, in Betriebsräten und Gewerkschaften Fuß zu fassen, wie etwa der Liste «Zentrum Automobil» im Daimler-Werk Untertürkheim. Einigkeit bestand darin, dass die Ergebnisse nach den Betriebsratswahlen der Rechten geringer ausgefallen sind als befürchtet. Die Effekte wurden jedoch unterschiedlich bewertet: während in einem Beitrag positiv hervorgehoben wurde, dass das Auftauchen der Rechten überhaupt zu Diskussionen in den Betrieben und zum Teil auch zu einem Mitgliederzuwachs bei der IG Metall und zu einer höheren Wahlbeteiligung geführt hat, warnten andere, dass «Zentrum Automobil» aber ihre Strukturen weiter ausbauen werden – dass sich sogar rechte Gewerkschaften bilden könnten.

 

Der zweite thematische Block der Tagung stand unter der Überschrift «Klassentheorie, Wandlungen des Kapitalismus und die Organisation kollektiver Handlungsfähigkeit». Zunächst referierte der Soziologe Klaus Dörre (Uni Jena) zum Thema «Der Kapitalismus als Klassengesellschaft - damals und heute». In seinem Vortrag wandte er sich zunächst gegen das feuilletonistischen «zu Tode-Feiern» zum 200. Geburtstag von Karl Marx und erinnerte an die wichtige Lehre, dass man, Mehrheiten gewinnen müsse, wenn man die Gesellschaft verändern wolle. Seine These lautete, dass in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen (westlichen) kapitalistischen Gesellschaften eine „demobilisierte Klassengesellschaft» herrsche, die Ungleichheit sei massiv angestiegen und die progressiven politischen Kräfte, die an der «Klassenachse aktiv» seien, seien schwach. Mit dem Marx’schen Klassenbegriff ließen sich Kausalmechanismen benennen, wie Ungleichheitsverhältnisse entstehen – und diese Kausalmechanismen müssten wieder stärker aufgezeigt werden. In seinem Vortrag nannte er die in seinen Augen wichtigen theoretischen Ergänzungen zu Marx, etwa durch Erik Olin Wright, der einen zusätzlichen Kausalmechanismus herausarbeitete: die Ausübung bürokratischer Kontrollmechanismen. Oder durch Pierre Bourdieu mit seinem Distinktionsbegriff – Distinktion als Kausalmechanismus, der die Verinnerlichung der Klassenherkunft beschreibt, das unterbewusste Klassenbewusstsein, die Klasse, die als geronnene Struktur sich im Habitus niederschlägt. Und schließlich hat ihn die Diskussion um «Rückkehr nach Reims» von Didier Eribon sehr beschäftigt – insbesondere der Aspekt, dass Klassenverhältnisse wirken, auch wenn der Begriff der «Klasse» öffentlich nicht mehr vorkommt. Neben theoretischen Überlegungen stellte Dörre auch empirisch die Reichtumsentwicklung, die Entwicklung der Arbeitseinkommensquote dar, warf drüber hinaus einen Blick auf die Entstehung einer neuen herrschenden Klasse, die er in den IT- und Kommunikationskonzernen sieht. Im Prinzip würden 10-15% der Bevölkerung in den kapitalistischen Gesellschaften nicht mehr gebraucht, nicht mal mehr als industrielle Reservearmee. Die Klassenstruktur, so seine Schlussfolgerung bedürfe einer neuen Analyse, beispielsweise hinsichtlich der Entwicklungen im Dienstleistungssektor oder die Entstehung einer Klasse von oft akademischen digitalen Arbeiter*innen. Für die Zukunft erwartete Dörre, dass sich die Klassenstruktur in Zukunft weiter polarisieren werde. Dem müsse die Linke durch eine «neue inklusive Klassenpolitik» begegnen.

 

An den Beitrag von Klaus Dörre schloss Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall mit einem Beitrag über «Gewerkschaft als Klassenorganisation – damals und heute» an. Er erinnerte zunächst an den vergangenen Tarifabschluss der IG Metall, der ein prima Ergebnis sei, aber um die Gesellschaft zu verändern, würde das nicht ausreichen. Er verwies auf den Text von Karl Marx «Lohn, Preis und Profit» von 1865, wo dieser den «doppelten Auftrag» an die Gewerkschaften formulierte, wie Urban es nennt: Gewerkschaften als Sammelpunkt für Widerstand gegen die kapitalistischen Verhältnisse einerseits. Aber sie hätten eben auch zudem den Auftrag zur Transformation, zur Überwindung der Verhältnisse. Daran anschließend formulierte Urban verschiedene Ansatzpunkte, an denen sich gewerkschaftliches Handeln orientieren sollte: nicht moralisieren, sondern analysieren. Dazu gehöre es Besitzverhältnisse zu benennen. Zudem müsse analysiert werden, wo neue Abhängigkeitsverhältnisse entstehen. Und schließlich brauche es eine Allianzpolitik. Andere soziale Bewegungen seien für die Gewerkschaften schon in der Vergangenheit immens wichtig gewesen, wie z.B. die Antiglobalisierungsbewegung in Bezug auf die lange dominante Orientierung auf den Export innerhalb der IG Metall. Urban sprach des Weiteren über die Notwendigkeit einer sozialökologischen Transformation und streifte die Wachstumsfrage. Letztlich habe die Gewerkschaft den Auftrag, ihr politisches Mandat wahrzunehmen und sich einzumischen und eine Wirtschaftsdemokratie zu erkämpfen. Wolfgang Abendroth und sein Verständnis von Sozialismus seien nach wie vor aktuell: Sozialismus als Demokratie, die alles durchdringt.

 

In der Abschlussdiskussion sprach Katharina Kaupp, ver.di-Gewerkschaftssekretärin aus Heilbronn, über den Streik im Öffentlichen Dienst und betonte, dass in der Gewerkschaftsarbeit viel über «Emotionen» laufe. Dieses Element sei enorm wichtig, denn erst, wenn die Beschäftigten emotional berührt seien, würden sie sich engagieren. Sie berichtete außerdem über ihr Engagement im «Netzwerk gegen Rech» und bei «Stammtischkämpfer*innen – Aufstehen gegen Rassismus!» und betonte in diesem Zusammenhang, dass kämpferische Gewerkschaftsarbeit ein Rezept zur Zurückdrängung rechten Gedankengutes in der Arbeitswelt sein könne. Zudem sei in diesen Initiativen der Austausch zwischen Menschen aus unterschiedlichen Milieus möglich, der sehr wichtig sei für das, was analytisch als Fragen einer «neuen Klassenpolitik» diskutiert werde.