Nachricht | Griechenland hat gewählt.

Athanasios Marvakis (Universität Thessaloniki) mit einer Bilanz zu 4 ½ Jahren Syriza-Regierung und Perspektiven für die Zukunft

Professor Athanasios Marvakis Universität Thessaloniki (rechts). Foto: Philippe Ressing

Am 8. und 9. Juli, ein bzw. zwei Tage nach den griechischen Parlamentswahlen stellte der griechisch-schwäbische Professor Athanasios Marvakis bei zwei Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Stuttgart und Tübingen seine Sicht der Dinge dar. Wir danken Philippe Ressing (https://medienfresser.blogspot.com) für die Erlaubnis der Übernahme seines Berichtes zur Veranstaltung in Stuttgart sowie zur Widergabe seines Fotos.
 


«Schlappe für Tsipras – Konservative gewinnen Parlamentswahl» (WELT), «Deutliche Niederlage für Tsipras» (FAZ), «Linke Abgewählt"»(Focus), «Konservative Wende in Athen» (taz)

So titelten bundesdeutsche Zeitungen nach dem Wahlergebnis in Griechenland: «Die Berichterstattung in den deutschen Medien zur Wahl in Griechenland war nur peinlich», meint dazu der griechisch-schwäbische Professor Athanasios Marvakis. Der in Thessaloniki lehrende Psychologe war am 8. Juli - also einen Tag nach der Wahl - in Stuttgart und stellte auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung seine Sicht der Dinge dar.

Die Niederlage Tsirpas und Syrizas sei nicht so deutlich ausgefallen, wie es alle Medien - in Griechenland und Deutschland - prophezeit hätten. Zusammengerechnet erreichten die Nea Demokratia (ND) mit der neu im Parlament vertretenen rechtsnationalistischen Elliniki Lysi knapp 44% der Wählerstimmen, die Mitte-Links-Parteien (Syriza, Sozialdemokraten, Kommunisten und Diem 25) bekamen dagegen zusammen über 48%. Nur das spezielle Wahlsystem Griechenlands, das der Mehrheitspartei zusätzlich 50 Parlamentssitze überlässt, hat der ND zur absoluten Mehrheit verholfen - nicht die Mehrheit der Wähler. Außerdem, so Marvakis, hätten Jüngere und Arbeitslose mehrheitlich für Syriza gestimmt. Mit ihren Prognosen seien die Printmedien und der Privatfunk in Griechenland dem Wunschdenken als der Realität gefolgt. Deren Hass auf Tsipras rühre vor allem daher, dass Syriza die Besitzer der Kommerziellen Rundfunksender dazu verdonnert hatten, endlich Steuern zu zahlen. Jahrzehntelang hätten die Kommerzfunker in Griechenland ohne jegliche Lizenz gesendet, das wollte Tsipras ändern.  

Erleichtert äußerte sich Marvakis, dass die Nazi Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) den Einzug in das Parlament - wenn auch nur knapp - verfehlt hat. Derzeit gehen die Prozesse gegen die Führung der Partei wegen diverser Verbrechen dem Ende entgegen. Da die angeklagten Parlamentarier nicht mehr über die Immunität verfügen könnten und auch die Mittel vom Parlament wegfallen, bringe die Neonazis und die ihrer Abgeordneten-Immunität verloren gegangenen Angeklagten jezt in Schwierigkeiten. Das Geld für die Prozessführung versiegt. Die Nea Demokratia habe mit ihren knapp 40% Wählerstimmen Konservative und Rechte wieder auf sich vereinen können. Das werde aber sicherlich noch interne Probleme zwischen den Flügeln mit sich bringen, meint der Professor aus Thessaloniki. Auf der anderen Seite hätten auch viele Autonome und Anarchisten Syriza gewählt - als kleineres Übel. Sie fürchten unter der neuen Regierung für die Polizei und Sicherheitskräfte einen Freibrief für Angriffe. «Das Bipolare System in Griechenland hat sich erneuert, Rechte gingen zur ND, Linke haben sich aber nicht der Pasok-Nachfolgepartei zugewandt, sondern sind bei Syriza geblieben», sagt Marvakis. Dabei sei die Pasok-Nachfolgepartei letztlich froh darüber, dass die ND keinen Koalitionspartner brauche, dass hätte für die Rest-Sozialisten sicherlich zu einer Zerreisprobe geführt.

Was bedeutet das Ergebnis für die Linke in Griechenland? Trotz Wahlpflicht - die die Hellenen ignorieren - sei die Wahlenthaltung gestiegen. «Andere kandidierende linke Parteien waren absolut Chancenlos und landeten im Null-Komma-Bereich und die Kommunisten kamen auf ihr übliches Ergebnis um 5%», konstatiert Marvakis. Neu im Parlament sei die Gruppe Diem 25 mit dem ehemaligen Syriza-Finanzminister Yanis Varoufakis, um den sich Linke, Liberale, aber auch Antikommunisten geschart hätten.

Warum hat Syriza verloren? Nicht zuletzt auch weil sie keine einheitliche Partei sei und Strukturen entwickelt habe, kritisiert Marvakis. «Syriza ist entstanden als Sammelsurium aus 18 verschiedenen linken Sekten». Daher habe sie sich letztlich zum Tsipras-Wahlverein entwickelt. Gleichzeitig habe die Regierung durchaus etwas für die Ärmsten getan, zwei Millionen Menschen hätten eine Gesundheitsversicherung erhalten.

Zum Thema Flüchtlinge meinte Marvakis kritisch: «Griechenland verdient daran», mittlerweile gebe es Pushbacks an der Landgrenze zur Türkei, die von paramilitärischen Gruppen durchgeführt würden. Hier zeige sich auch in Griechenland der 'Tiefe Staat', damit bezeichnet man die Verquickung staatlicher Organe mit antidemokratischen rechten Organisationen, die geheim arbeiten. Gleichzeitig habe schon die Syriza Regierungen Flüchtlinge aus der Türkei unterschiedlich behandelt, Anhänger der Gülen-Bewegung seien deutlich besser behandelt worden, als etwa verfolgte Kurden oder Linke

Für Marvakis ist klar: In Griechenland herrschen immer noch die Familienclans - Mitsotakis (ND) oder Papandreu (Pasok). Es sei Tsipras in der kurzen Regierungszeit nur nicht gelungen, ein ähnliches System herauszubilden. Dabei habe sich Syriza zunehmend dem angenähert, im Gegensatz zu ND oder Pasok habe sie aber nicht genügend Posten zu verteilen gehabt. Hat Syriza die Protestbewegungen domestiziert? Marvakis meint nein, diese hätten sich bereits vor dem EU-Kniefall Tsipras weitgehend aufgelöst. Es habe während der Regierungszeit keinen Druck von der Staße auf Tsipras gegeben. Syriza ihrerseits sei durch die Bewegungen an die Macht gekommen, habe aber keinen Kontakt zu ihnen gewollt. Trotzdem seien Freiräume entstanden, etwa für die Flüchtlings-Initiativen: «Man überlege nur, was unter einer konservativen Regierung an den Grenzen und in den Camps passiert wäre», gab Marvakis zu bedenken.

Griechenland sei ein sehr konservatives Land, das zeige die Macht, die die orthodoxe Kirche bis heute habe. Viele Griechen hofften auf einen starken Mann, der ihre Probleme löse. Parteiprogramme seien den Wählern egal - von ND bis Syriza. Die Selbstständigen hätten in der Schuldenkrise Syriza an die Macht gebracht, jetzt hätten diese traditionell wieder rechts gewählt. Tsipras habe den Fehler gemacht, mit einer Steuerreform die kleinen Unternehmen dazu zu zwingen, im Vorab für ein Jahr ihre Unternehmenssteuern entrichten zu müssen - dass habe ihn Stimmen gekostet.

Entgegen der Beschimpfungen der Medien, habe Tsipras beim Thema Nord-Mazedonien mehr herausgeholt, als alle Regierungen zuvor. «Der Deal ist aber ein Beispiel für griechischen Nationalismus - trotzdem ist diese Lösung besser als keine", betonte Marvakis. Griechenland geriere sich gegenüber den Nachbarländern als «lokaler Nationalist», zwinge ihnen seinen Willen auf.

Ob es einen neuen Aufschwung der außerparlamentarischen Bewegungen unter der ND-Regierung geben wird? «Das kann niemand sagen, aber dass ohne Bewegung sich nichts positiv entwickelt ist klar!»

Bericht und Foto: Philippe Ressing (https://medienfresser.blogspot.com)