Interview | Sozialökologischer Umbau - Klimagerechtigkeit «Die Modelle spiegeln eine sehr westliche Sicht auf die Welt»

Wie ideologische Voreingenommenheit und strukturelle Ungleichheit den IPCC daran hindern, Möglichkeiten für einen grundlegenden Wandel auszuloten

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Der jüngste Bericht des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) zeigt nicht nur, dass rasche und weitreichende Veränderungen nötig sind, um weitere verheerende Auswirkungen der globalen Erwärmung zu verhindern. Er spricht auch zum ersten Mal die Möglichkeit – oder gar die Notwendigkeit – an, die Nachfrage, und damit den Verbrauch von Energie und Ressourcen zu verringern.

Diesen Ansatz der Suffizienz spiegeln die Szenarien, die der IPCCC enthält, jedoch nicht wider, kritisieren die Klimaexpert*innen Yamina Saheb und Kai Kuhnhenn. Mit Juliane Schumacher sprachen sie darüber, wie die IPCC Berichte entstehen, wessen Interessen und welche Sichtweisen sie widerspiegeln, und wie mit Ungleichheiten in der Finanzierung und im Zugang zum wissenschaftlichen Prozess umgegangen werden kann.
  

Im April wurde der dritte Teil des IPCC-Berichts veröffentlicht, mit einem Schwerpunkt auf Szenarien und politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels. Yamina und Kai, ihr seid beide mit dem IPCC-Prozess vertraut oder habt sogar selbst an den Berichten mitgearbeitet. Gab es etwas im Text, das euch überrascht hat?

YS: Ja, in der Tat! Wir haben es geschafft, das Konzept der Suffizienz in die Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger*innen zu bringen – das ist tatsächlich eine Revolution! Es gibt sogar eine Definition, in Fußnote 60 auf Seite 41.

Wie wird Suffizienz dort definiert?

YS: Suffizienz meint alle politischen Maßnahmen und alltäglichen Praktiken, die keine zusätzliche Nachfrage nach Energie, Rohstoffen, Wasser oder Land schaffen und gleichzeitig Wohlstand für alle in den planetaren Grenzen ermöglichen. Das heißt, den Überkonsum des Globalen Nordens einzuschränken, um dem Süden die Möglichkeit zu erhalten, sich zu entwickeln. Und das heißt auch, dass innerhalb des Globalen Nordens dem Überkonsum der Reichsten Grenzen gesetzt werden, damit einkommensschwache Gruppen einen angemessenen Lebensstandard erreichen können.

KK: Mich hat Kapitel 5 überrascht, das die Ungleichheit des Energieverbrauchs und der Treibhausgasemissionen erwähnt. Es ist gut, dass das endlich diskutiert wird. Wenn man auf die letzten IPCC-Berichte zurückschaut, steht in allen von ihnen irgendwo etwas wie: «Wirtschaftswachstum erhöht die Treibhausgasemissionen», oder «Mehr Wachstum führt in gesättigten Gesellschaften nicht zu mehr Wohlbefinden.» Aber dann gibt es die Seite der Modellierer*innen, und die haben eine ganz klare Grundannahme: «Wir modellieren unendliches Wirtschaftswachstum.» Es gab also immer einen gewissen Widerspruch zwischen verschiedenen Teilen des IPCC selbst, und der zeichnet sich in diesem Bericht noch eklatanter ab, weil Themen wie die Reduktion der Nachfrage, Suffizienz, oder sogar Degrowth solch eine wichtige Rolle im Bericht spielen, was allerdings nicht ansatzweise in dem Teil aufgegriffen wird, wo es um die Modellierung von Szenarien geht.

YS: Der IPCC-Bericht hat insgesamt 17 Kapitel, und welche Themen in die Kapitel aufgenommen werden, hängt am Ende stark von den den Koordinator*innen der unterschiedlichen Kapitel ab, und davon, wie hartnäckig sie sich für ein Thema einsetzen. Ich bedauere, dass die Suffizienz in Kapitel 5 nicht öfter vorkommt, immerhin ist es das erste Kapitel in einem IPCC-Bericht über Dienstleistungen und Nachfrage. An dem Kapitel hätte ich sehr gerne mitgeschrieben, aber ich habe das Kapitel über Gebäude koordiniert, mein Spezialgebiet. Das Thema hätte auch zu Kapitel 3 mit den Klimaszenarien gepasst, aber das haben zwei Wissenschaftler*innen der Integrated-Assessment-Modelling (IAM) Community koordiniert.

Die Autor*innen dieses Kapitels haben also die Klimaszenarien erarbeitet?

YS: Nein, es gab einen Call – oder vielmehr drei. Der IPCC entwirft keine eigenen Klimaszenarien. Das ist vielleicht wichtig zu wissen: Viele Leute reden zwar von IPCC-Szenarien, aber im Grunde bedeutet das nur, dass diese Klimaszenarien von den IPCC-Autor*innen geprüft und ausgewählt werden. Die Autor*innen von Kapitel 3 sind für die Evaluierung der langfristigen Szenarien zuständig. Es gab also drei Calls: einen für Szenarien über einen längeren Zeitraum und einen für Szenarien über einen kürzeren, und einen eigenen Call für unseren Bereich, den Gebäudesektor. Wir haben über 3300 Einreichungen erhalten, von denen 700 im Einklang mit dem Pariser Klimaschutzabkommen waren, das heißt, sie bewegten sich im Rahmen einer Erderwärmung von 1,5 bis 2 °C bis zum Ende des Jahrhunderts. Davon wiederum hielten nur 230 den Richtwert der 1,5-Grad-Marke ein. In diesen 230 suchte ich nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen: nach Suffizienzmaßnahmen. Ich habe nur zwei Szenarien gefunden, die Suffizienzmaßnahmen im Sinne einer Reduktion der Nachfrage enthielten. Und in keinem wurde das Wort «Suffizienz» erwähnt.

KK: Oh. Wow.

YS: Das ist eine Katastrophe! Auf globaler Ebene gibt es zwei weitere Szenarien, die mit Suffizienzmaßnahmen arbeiten. Zum einen das Societal Transformation Scenario (Szenario der Gesellschaftlichen Transformation), das Kai mit seinen Kolleg*innen entwickelt hat, und zweitens das Konzept von Julia Steinberger und ihrem Team in Leeds mit dem Titel «Providing decent living with minimum energy: A global scenario» (Mit minimalem Energieaufwand würdige Lebensumstände schaffen – ein globales Szenario). Beide Szenarien haben es allerdings nicht in die IPCC-Datenbank geschafft. Denn um in die Datenbank aufgenommen werden zu können, braucht es Ressourcen und vor allem Personal. Derlei realistische Szenarien für einen bewohnbaren Planeten, wie sie Kai und Julia entwickelt haben, werden meistens in kleinen Teams, manchmal auch ehrenamtlich in unbezahlten Freizeitstunden entwickelt. Die IAM-Modelle, die IAMs, werden hingegen von riesigen Teams mit 40 bis 60 Mitarbeiter*innen erarbeitet, die also viele Hände haben, um die ganze Arbeit zu erledigen. Die IPCC-Datenbank ist für diese Mehrheit konzipiert worden. Ich habe Kais und Julias Teams selbst kontaktiert und ihnen vorgeschlagen, ihre Szenarien einzureichen, aber das konnten sie nicht bewerkstelligen.

Weil die Datensätze in einem bestimmten Format aufbereitet werden müssen?

YS: Ja, und das bedeutet eine Menge Arbeit. Deswegen haben die Szenarien von Julia und Kai es auch nicht in den IPCC-Bericht geschafft. Selbst wenn sie in die engere Auswahl aufgenommen worden wären, hätte das noch nicht geheißen, dass sie auch unter den fünf Szenarien gewesen wären, die am Ende für den Bericht ausgewählt wurden. Wir haben die Szenarien in einer Gruppe von über 60 Teilnehmer*innen ausgewählt und besprochen, aber die Mehrheit dieser Wissenschaftler*innen stammt aus der IAM-Community. Und deren Szenarien stützen sich auf Wachstum, sie werden von Wachstum angetrieben.

Yamina Saheb ist Ingenieurin und Ökonomin. Sie arbeitet vor allem auf EU-Ebene zur Energie- und Klimapolitik. Sie ist die Koordinatorin des 9. Kapitels des jüngst erschienenen IPCC-Berichts über Eindämmungsmöglichkeiten des Klimawandels und hat auch an anderen Kapiteln des Berichts mitgearbeitet. Sie lebt in Paris.

Kai Kuhnhenn ist Umweltwissenschaftler und arbeitet für das Konzeptwerk Neue Ökonomie. Zusammen mit Luis Costa, Eva Mahnke, Linda Schneider und Steffen Lange hat er das Societal Transformation Scenario entwickelt, um zu zeigen, dass das Einhalten der 1,5-Grad-Marke möglich ist, wenn der Globale Norden sein Konsumverhalten reduziert – ganz ohne auf Negativemissionstechnologien zurückzugreifen. Er lebt in Leipzig.

Wie werden diese IAMs erstellt?

YS: Die Integrated-Assessment-Modelle, eine Form der ökonomischen Modellierungen von Klimafolgen, gibt es seit etwa 30 Jahren. Mit diesen speziellen Computermodellen arbeitet eine große wissenschaftliche Community auf der ganzen Welt, darunter das bedeutende Internationale Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Österreich. Allerdings setzen all diese IAM-Modelle ein konstantes Wirtschaftswachstum voraus und rechnen mit der Dekarbonisierung der Versorgungsketten statt mit einer Reduktion der Nachfrage. In unserem Kapitel 9 zeigen wir eindeutig, was es heißt, die Anpassung der Nachfrage außer Acht zu lassen und ohne Suffizienzmaßnahmen zu planen: Von 1990 bis 2019 hat sich die Effizienz des Gebäudebausektors so weit verbessert, dass 49 Prozent der Treibhausgasemissionen eingespart werden konnten. Zugleich hat jedoch die fehlende Suffizienz – Menschen leben und arbeiten in immer größeren Gebäuden und benutzen immer mehr und größere Geräte – eine erneute Steigerung der Treibhausgasemissionen um 52 Prozent verursacht. Zudem ist problematisch, dass die Szenarien keinen gleichberechtigten Zugang zu angemessenen Lebensbedingungen für die Bewohner*innen des Globalen Südens und für die des Globalen Nordens vorsehen.

Sie rechnen also mit weiterem Wirtschaftswachstum im Norden, aber weniger im Globalen Süden?

YS: Dafür kann ich ein weiteres Beispiel aus meinem Fachgebiet, dem Gebäudesektor, nennen: In Nordamerika verfügen Menschen heute im Schnitt über 60 Quadratmeter Wohnfläche pro Kopf, während der Durchschnitt auf dem afrikanischen Kontinent bei 10 Quadratmetern liegt. In einigen afrikanischen Ländern, in denen es überhaupt keinen angemessenen Wohnraum gibt, sind es sogar weniger als 5 Quadratmeter. Das ist der aktuelle Stand der Dinge. Also gehen einige der IAM-Modelle, die ja mit Wirtschaftswachstum arbeiten, davon aus, dass bis 2050 jede Person in Nordamerika 65 Quadratmeter und jede Person in Afrika weiterhin 10 Quadratmeter zur Verfügung hat. Wieso zur Hölle sollte ich als Afrikanerin solch einen Vorschlag annehmen? Das ist einfach nicht akzeptabel.

Aus welchen Fachgebieten kommen die Modellierer*innen der IAMs – und wo sind sie ansässig?

YS: Die meisten sind im Globalen Norden ansässig. In den Modellen spiegelt sich eine sehr westliche, eine neokoloniale Weltsicht, wie Jason Hickel in einem Artikel schrieb. Ich verstehe, dass die Dinge heute so stehen. Das sind die Machtverhältnisse, die wir geerbt haben. Als Bürgerin Europas und Afrikas, die auf beiden Seiten des Mittelmeeres zuhause ist, bin ich aber entsetzt, dass diese Modelle für 2050, für die Generation meines Sohnes, eine Welt vorsehen, die genauso ungleich ist wie die, in der ich mich heute bewege.

Sind alle IPCC-Szenarien IAM-Modelle?

YS: Nur die IAM-Modelle liefern Prognosen bis 2100 und verfügen über ausreichend qualifiziertes Personal, um den IPCC-Prozess zu unterstützen. Kleine Teams können das, wie gesagt, fast nicht bewerkstelligen. Diese Modelle sind tatsächlich alles, was wir haben – andere Szenarien wie das Social Transformation Scenario von Kai und seinen Teamkolleg*innen haben es nicht in die Datenbank geschafft. Im IPCC priorisieren wir Publikationen in Fachzeitschriften mit Peer-Review-Verfahren, bei dem die Artikel von weiteren Wissenschaftler*innen aus dem Feld begutachtet und dann akzeptiert oder abgelehnt werden. Wenn man sich aber genauer anschaut, wer beispielsweise in der Redaktion von Nature sitzt, stellt man schnell fest, dass ein Großteil der Redaktion auch zur IAM-Community gehört.

Das Problem ist also, dass die Gutachter*innen alle derselben Community angehören und sich ihre Herangehensweise dadurch selbst reproduziert, weil andere Ansätze nur schwer durch den Begutachtungsprozesse kommen.

YS: Genau! Das Ganze ist ziemlich inzestuös.

KK: Du hattest auch gefragt, aus welchen Fachgebieten die Modellierer*innen kommen. Meine kurze Antwort wäre: aus nicht genug unterschiedlichen Fachgebieten. Die meisten sind Ökonom*innen und Ingenieur*innen, und Ökonom*innen tun eben, was Ökonom*innen tun: Sie überschreiten die Grenzen ihrer Disziplin, dessen, worüber sie eigentlich qualifiziert sind zu sprechen. Wenn wir darüber reden wollen, wie die Welt in 20 bis 50 Jahren aussehen könnte, brauchen wir alle möglichen unterschiedlichen Fachgebiete. Und wie Yamina eben sagte: Die aktuellen Modelle reproduzieren größtenteils die gegenwärtigen Verhältnisse. Vielleicht können sie uns sagen, wie die Welt in 10 Jahren aussehen wird. Aber sie können nicht 30 oder 70 Jahre in die Zukunft blicken.

YS: Diese Szenarien reichen bis zum Ende des Jahrhunderts.

KK: Bis 2100. Und weil es sich um volkswirtschaftliche Modelle handelt, brauchen sie alle möglichen Daten, etwa die Preise für Energie oder Technologie, und zwar von heute bis 2100. Es ist absurd, den Ölpreis in 20 oder 40 Jahren vorhersagen zu wollen. Der Energiemarkt und die Energiepreise werden so stark durch die Politik und das Weltgeschehen beeinflusst, dass es sehr schwierig ist, sie mit mathematischen Modellen zu berechnen.  

YS: Es gibt ein weiteres Problem mit den IAMs, das sich in meinem Bereich zeigt: Ein ganzer Sektor wie die Bau- und Wohnungswirtschaft wird in den IAM-Modellen nur als ein Punkt, ein Faktor zusammengefasst – in Form des Energieverbrauchs des gesamten Gebäudebestands. Dadurch können die Modelle nicht abbilden, welche Tendenzen sich im Gebäudebestand abzeichnen oder wie sich die Bevölkerung verändert. Viele ihrer Annahmen stützen sich nicht auf Daten. Zum Teil ziehen sie abwegige Schlussfolgerungen: Einige Szenarien prognostizieren ab 2030 negative Treibhausgasemissionen für den Gebäudebestand in Ländern wie Indonesien. Wer könnte auch nur eine Sekunde lang glauben, dass negative Emissionen bis 2030 in einem Land wie Indonesien den Gebäudebestand dekarbonisieren könnten!

KK: Ich habe versucht, herauszufinden, welche Wohlfahrts- oder Nutzenfunktion die IAMs haben. Denn im Endeffekt schreiben sie ihrem Modell ja gewissermaßen vor: Bitte innerhalb dieses Emissionsbudgets bleiben, indem Optionen A-Z genutzt werden, zum Beispiel erneuerbare Energie, Atomenergie oder Suffizienz – wobei letztere meist nicht bei den Optionen dabei ist. Dann errechnen die Modelle den billigsten Weg, um innerhalb der vorgegebenen Emissionsbudgets zu bleiben. Genauer: Sie versuchen den Pro-Kopf-Verbrauch für das gegebene Emissionsbudget zu optimieren. Anschließend werden einige Anpassungen vorgenommen: Es wird höher gewertet, wenn arme Menschen – und nicht die reichen – ihren Pro-Kopf-Verbrauch steigern. Es gibt also ein paar gute Ansätze. Das Grundproblem bleibt aber, dass das Modell den Pro-Kopf-Verbrauch optimiert, den individuellen Konsum, und das heißt in der Ökonomie: maximiert. Diese Szenarien werden als der bestmögliche Weg dargestellt, die Klimaziele zu erreichen. Aber was sie abbilden, ist nur der Weg mit dem höchstmöglichen Konsum pro Kopf. Was ist mit  der Frage, wieviel Arbeitszeit oder wieviele Ressourcen für einen solchen Lebensstil nötig sind? All das wird nicht einberechnet.

Funktionieren alle Modelle auf diese Weise?

KK: Das ist zumindest ihre Grundlage. Zudem wird meistens zuerst die günstigste Technologie angewandt, dann die zweitgünstigste… Dafür benötigen sie aber allerlei Daten: Sie müssen herausfinden, wie sich die Preise für verschiedene Arten der Strom- und Treibstofferzeugung und der Emissionsminderung von heute bis 2100 entwickeln werden.

Das Problem ist also, dass vor allem Mainstream-Ökonom*innen diese Modelle erarbeiten und dabei neoliberale Ideen einbringen.

KK: Absolut. Eine Person, die an einem dieser Modelle arbeitete, sagte mir einmal: «Wir wenden ganz einfach die normale Theorie an, die normale Wirtschaftstheorie. Wir denken uns das nicht aus. So ist es einfach.» Dabei fließen durch diese Theorien so viele ethische Setzungen mit in die Modelle ein, die nicht öffentlich gemacht, die nicht diskutiert werden. Das ist für mich das größte Problem.

Also ein Problem der Transparenz?

KK: Eindeutig.

Sind die Codes und Algorithmen öffentlich zugänglich? Oder wissen nur die Modellierer*innen, wie ihre Modelle genau funktionieren?

KK: Diese Informationen sind natürlich nicht öffentlich zugänglich, immerhin sind das die Informationen, die für die Entwickler*innen am wertvollsten sind. Manchmal gibt es jedoch Dokumentationen, die dabei helfen, die Funktionsweise der Modelle mehr oder weniger zu verstehen, wie etwa im Fall des REMIND-Modells (Regional Model of Investment and Development) des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Als ich mir das vor drei, vier Jahren angesehen habe, war es das einzige Modell mit einer Dokumentation, die die Nutzenfunktion wirklich mathematisch darlegte. 

Welchen Einfluss haben diese Modelle? Wieso ist ihre Homogenität so problematisch?

YS: Ich kann ein Beispiel geben: Die Modelle arbeiten allesamt mit kontinuierlichem Wirtschaftswachstum, und mehr Wirtschaftswachstum bedeutet schlicht mehr Emissionen. Wir haben eine Obergrenze für die Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts festgelegt, aber da die Wirtschaft unter den vorgegebenen Bedingungen nicht dekarbonisiert werden kann, setzen alle Modelle auf negative Treibhausgasemissionen, um die Obergrenze einzuhalten.

Doch diese Negativemissionstechnologie – also Technologie, die der Atmosphäre Kohlenstoffdioxid entzieht – ist momentan reine Spekulation. Technologien, die das in dem Maß leisten können, wie es dann nötig wäre, gibt es bisher nicht. Als ich den IPCC-Bericht im April in Paris der Ministerin vorstellte, wurden wir direkt nach negativen Emissionen gefragt. Was die Leute aus dem IPCC-Bericht mitnehmen ist, dass wir negative Emissionen brauchen!

Ich habe ihr erklärt, dass selbst wir Autor*innen des IPCC-Berichts uns über diesen Punkt uneinig sind und dass wir zwei Optionen haben: Option 1 sind die Szenarien, die der IPCC aufgenommen hat, die IAMs – in diesem Fall brauchen wir negative Emissionen. Im Fall von Option 2, mit Modellen wie denen von Kai oder Julia, brauchen wir keine negativen Emissionen, um die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten, weil diese die Welt anders modellieren. Leider sendet der IPCC-Bericht aber die Botschaft aus, dass wir negative Emissionen benötigen.

Es hat also weitreichende politische Auswirkungen, wenn der IPCC nur Modelle zeigt, die auf negativen Emissionen beruhen.

KK: Genau. Weil dann alle nur noch über Technologien für negative Treibhausgasemissionen reden und dort dann die Gelder hingehen – anstatt dass darüber geredet wird, wie die Welt aussehen könnte und wie wir sie verändern wollen. Das schränkt die politische Debatte ein und leitet sie auf eine enge Bahn, zu der es keine Alternativen zu geben scheint. Auch weil es keine Relativierungen gibt. Der IPCC sagt nicht: «Mit unserer Herangehensweise, mit unseren Modellen, haben wir keine anderen Möglichkeiten gefunden», sondern: «Das sind die möglichen Szenarien, zwischen denen wir uns entscheiden können. Es gibt keine anderen.»

Wer hat Interesse an diesem Fokus auf wachstumsorientierte Modelle und Lösungen mit Negativemissionstechnologien?

KK: Einerseits haben in einer Welt mit kontinuierlichem Wirtschaftswachstum Regierungen, Unternehmen und Konzerne daran ein allgemeines Interesse. Einige von ihnen, wie auch die deutsche Regierung, finanzieren auch Klimaszenarien. Dementsprechend werden die Wissenschaftler*innen gebeten, Szenarien mit kontinuierlichem Wirtschaftswachstum zu erstellen. Ich persönlich hätte gerne ein Szenario wie das Societal Transformation Scenario auf nationaler Ebene entwickelt – ein Szenario, das in der jetzigen Situation mit der Ukraine sehr hilfreich wäre, da es uns einen Weg zeigen könnte, wie wir den Verbrauch fossiler Brennstoffe durch eine Reduktion des Verbrauchs und der Produktion beschränken könnten. Aber es ist schwer, für ein derartiges Forschungsprojekt Geld zu bekommen.

Vielleicht sind die Geldgeber*innen auch zurückhaltend, weil sie den IPCC nicht kritisieren wollen.

KK: Hier ist es wichtig, noch einmal zu betonen, dass ich damit keineswegs sagen will, dass der IPCC lügt und es keinen Klimawandel gibt. Die gesamte naturwissenschaftliche Basis des Berichts – das ist alles absolut wissenschaftlich fundiert. Ich will nicht die Institution des IPCC kritisieren, sondern einen ganz bestimmten Teil: die Szenarien und wie sie erstellt werden.

YS: Der IPCC selbst hat eine spannende Funktionsweise, weil er Autor*innen aus der ganzen Welt zusammenbringt, die auf der Grundlage ihrer Publikationen ausgewählt werden. Aber gleichzeitig sind die Chancen, etwas zum IPCC beitragen zu können, auch sehr ungleich verteilt. Wissenschaftler*innen im Globalen Norden haben Zugang zu Fördermitteln, Publikationen, Hilfsmitteln und Konferenzen. Das haben Wissenschaftler*innen im Globalen Süden nicht. In meiner Gruppe gab es einen Kollegen aus Afrika, der sich nicht wirklich beteiligten konnte, weil wir den Großteil unserer Arbeit online erledigten und seine Internetverbindung nicht gut genug war. Außerdem hatte er keinen Zugang zu Publikationen, weil diese meistens hinter teuren Paywalls liegen, zu denen wir über die Universitäten oder finanziell gutgestellten Forschungsinstitute in unserem Rücken Zugriff hatten. Er hatte also erhebliche Nachteile.

Ein weiteres interessantes Detail ist, dass die sehr einflussreiche Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger*innen Zeile für Zeile von Regierungen genehmigt wird, und dass die Wissenschaftler*innen den Entscheidungsträger*innen zuvor jedes einzelne Statement der Zusammenfassung noch einmal genauer erläutern.

Was oft kritisiert wird. Denn so ist es ja eher ein politisches, und kein rein wissenschaftliches Dokument.

YS: Das hat aber auch Vorteile. Wenn die Regierungen das Dokument absegnen, müssen sie auch dementsprechend handeln, und das gibt den NGOs die Möglichkeit, Druck auf die Einhaltung der Ziele auszuüben. Der IPCC ist ein spannender Prozess – aber es gibt definitiv Raum für Verbesserungen. Das gilt insbesondere für die Szenarien und wie wir damit umgehen. Ihre Homogenität ist aber nicht die Schuld des IPCC; es sind einfach die Szenarien, die uns im Moment zur Verfügung stehen. Wir müssen dringend Alternativen entwerfen, aber dafür brauchen wir Geld und Ressourcen.

Also können wir endlich über die Alternativen sprechen: Wie würde ein besseres Modell oder Szenario aussehen?

KK: Ich stelle mir ein relativ einfaches, leicht verständliches globales Modell vor, das von jedem benutzt und angepasst werden kann. Das frei zugänglich ist und für verschiedene Zwecke eingesetzt werden kann.

Also ein Open-Source-Modell, das zum Beispiel auch im Bildungsbereich genutzt werden kann?

KK: Genau. Und das weiterentwickelt und ergänzt werden kann. Zum Beispiel könnten Expert*innen aus dem Bausektor bestimmte Teile des Modells realistischer ausgestalten, indem sie angeben, was innerhalb einer bestimmten Zeitspanne umgesetzt werden könnte. Stück für Stück, mit all diesen Details, könnte solch ein Open-Source-Modell zum «Goldstandard» werden und genutzt werden, um verschiedene Szenarios zu entwerfen. Das würde mir gefallen.

YS: Solch ein Modell würde auch die Perspektive des Globalen Südens besser berücksichtigen. Menschen dort könnten es leichter nutzen und selbst zu seiner Weiterentwicklung beitragen. Wir brauchen Menschen aus der ganzen Welt, um diese Modelle zu gestalten. Dass ein paar Menschen in Paris sitzen und sich von dort aus die Zukunft von Milliarde von Menschen auf der ganzen Welt ausmalen – das geht einfach nicht.

Kai, geht das Modell, das Ihr entwickelt habt, in eine solche Richtung?

KK: Unser Modell ist sehr einfach, im Grunde ist es nur eine Art großer Rechenschieber. In den müssen dann alle Informationen eingespeist werden: Wie viele Kilometer werden durchschnittlich pro Jahr gefahren? Wie viele davon mit dem Auto, dem Fahrrad oder dem Zug? Und wie viele Menschen sitzen in einem Auto? Das gleiche wird dann für jeden Sektor wiederholt, bis etwa zehn bis 20 Verbrauchsparameter vorliegen.

Und dann wird dasselbe mit der Versorgungsseite gemacht. Wir mussten zum Beispiel schätzen, wie hoch der Anteil der erneuerbaren Energien ist, und wie stark er über die Zeit zunimmt. Das Modell rechnet dann einfach das Ergebnis aus. Es ist ein sehr einfaches Modell, im Grunde genommen eine große Kalkulationstabelle. Es kann sogar frei heruntergeladen werden. Allerdings sind die Daten mittlerweile etwas veraltet, und auf Verbrauchsseite unterscheiden wir nur zwischen Globalem Norden und Süden; es bräuchte mehr geografische Differenzierung …

Aber es zeigt immerhin, dass es auch so geht.

KK: Im Grunde ist es etwas vermessen, unser Szenario mit den IAMs zu vergleichen. Aber wir haben unsere Ergebnisse mit denen des Low-Energy-Demand- oder LED-Szenario verglichen, dem nachhaltigsten Szenario des IPCC, und festgestellt, dass sie ziemlich ähnlich waren. Die Qualität unseres Modells scheint also nicht viel schlechter zu sein. Dabei haben wir einfach mit den Instrumenten gearbeitet, die uns zur Verfügung standen.

Zu guter Letzt: Wenn Ihr einen Vorschlag machen dürftet, um den IPCC-Prozess im Hinblick auf die Szenarien und die Modellierungen zu verbessern, was würdet Ihr Euch wünschen?

KK: Ich würde mir wünschen, dass alle möglichen Sozialwissenschaftler*innen in den Prozess einbezogen werden – feministische Ökonom*innen, progressive Soziolog*innen, Kolonialismusexpert*innen – all die Menschen, die Wirtschaft und Gesellschaft anders denken.

YS: Heute erfassen wir im IPCC-Prozess Daten über die Menschen, die an den Kapiteln mitarbeiten, ihr Geschlecht und ob sie aus dem Globalen Norden oder Süden kommen. Allerdings sammeln wir keine Informationen über ihre Fachgebiete. Ich habe den Eindruck, dass die meisten Ökonom*innen sind – Mainstream-Ökonom*innen – oder Ingenieur*innen. Andere Disziplinen fehlen in diesem Prozess und es wäre gut, sie einzubeziehen.

Gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass Wissenschaftler*innen aus dem Globalen Süden sich beteiligen können und den gleichen Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen haben wie Wissenschaftler*innen aus dem Globalen Norden. Da in der Forschung meistens nur Veröffentlichungen in Fachzeitschriften mit Peer-Review anerkannt werden, müssen wir einen Weg finden, dass auch Wissenschaftler*innen aus dem Globalen Süden im gleichen Maße veröffentlichen und zitiert werden können.

Es wäre gut, wenn der IPCC Zahlen veröffentlichen würde, wieviele der zitierten Quellen aus dem Globalen Süden stammten und wieviele von Frauen. Mir liegen dazu keine Daten vor, aber es würde mich nicht überraschen, wenn sie extrem niedrig wären, und es vor allem Männer aus aus dem Globalen Norden sind, die zitiert werden. Genau solche Unterschiede führen dazu, dass dasselbe Entwicklungsmodell immer weiter fortgesetzt wird – und das spiegelt sich dann eben auch in den Modellen, die heute erstellt und genutzt werden.