Publikation »Peking muss rasiert werden«

Vor 120 Jahren wird das »Boxerprotokoll« unterzeichnet, mit dem der Imperialismus, allem voran der deutsche, die Chinesen für die Niederschlagung ihres Aufstands zahlen ließ. Von Erhard Korn

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Karikatur aus der sozialdemokratischen Zeitschrift "Der wahre Jacob" vom 11. September 1900. Bild: gemeinfrei

»Peking muss rasiert werden«

Vor 120 Jahren wird das »Boxerprotokoll« unterzeichnet, mit dem der Imperialismus, allem voran der deutsche, die Chinesen für die Niederschlagung ihres Aufstands zahlen ließ


Erhard Korn

Die alliierte Invasion gegen die »Boxer« in Nordchina eröffnete im Sommer 1900 nicht nur das »Jahrhundert der Katastrophen«, sie war auch die erste multinationale Intervention zur Durchsetzung »zivilisatorischer Werte«. Die »Boxer« verkörperten in den europäischen und US-amerikanischen Darstellungen das antichristliche, grausame China, jene »gelbe Gefahr«, die in Krisensituationen stets wieder mobilisiert wurde – nach 1949 vor allem gegen die Kommunisten.

Der Sühneprinz in Berlin

Vor 120 Jahren, am 7. September 1901 endete der »Boxerkrieg«. Die »Heilige Allianz« (Rosa Luxemburg) von acht Kolonialmächten diktierte China ein ruinöses »Friedensprotokoll«. Als besondere Demütigung bestand Wilhelm II. darauf, dass ein Vertreter der chinesischen Dynastie mit einem Kotau vor ihm Abbitte leistet. Und so musste der »Sühneprinz« Chun am 4. September 1901 im Neuen Schloss in Potsdam erscheinen:

»Der Kaiser ließ sich, ohne den Helm abzunehmen, mit Marschallstabe in der Hand, auf dem Throne nieder und schaute mit tiefernster Miene dem jugendlichen Prinzen entgegen, der unter tiefer Verbeugung in der Tür des Saales erschienen war.« Nach einigem diplomatischen Geplänkel hatte Berlin auf den Kotau, also eine Verbeugung auf den Knien, verzichtet. Der Prinz drückte nach mehrmaligen tiefen Verbeugungen »sein tiefes Bedauern über die vorjährigen Ereignisse« aus. Wilhelm II. ermahnte ihn, China müsse sich gewissenhaft an »der Sitte zivilisierter Nationen« orientieren. In den nächsten Tagen wurde der Prinz als Sehenswürdigkeit in der Berliner Gesellschaft herumgereicht, die erstaunt bemerkte, dass er »die feinen Unterschiede zwischen Fisch-, Braten- und Obstbesteck aufs genaueste einhielt«. Außenminister Oswald von Richthofen betonte bei dieser Gelegenheit das Ziel, »sich nach Wiederherstellung friedlicher Verhältnisse das chinesische Reich als Absatzgebiet für die deutsche Industrie zu sichern«.¹

Öffnung erzwungen

Während China im 18. Jahrhundert auf der Grundlage einer hochentwickelten Agrikultur eine Verbesserung des Lebensstandards, eine starke Bevölkerungszunahme auf circa 360 Millionen und einen Höhepunkt der Machtentfaltung der Qing-Dynastie erlebt hatte, war das 19. Jahrhundert gekennzeichnet durch Stagnation und Verelendung. Verursacht durch die Bevölkerungszunahme lag der landwirtschaftliche Ertrag kaum über dem absoluten Existenzminimum. Um zu überleben, war die ländliche Bevölkerung auf Einkommen aus der Hausindustrie etwa bei der Baumwollverarbeitung oder im Transportwesen angewiesen.

Die Einfuhr industriell hergestellten Baumwollgarns, bald auch von Rohseide, ruinierte diese Hausindustrie, vor allem in Shantung, dem Zentrum des Baumwollanbaus, das zum Kerngebiet der »Boxerbewegung« wurde. Der Einsatz von Dampfschiffen auf den Flüssen vernichtete zudem die Existenzgrundlagen von Millionen Fuhrleuten. Gleichzeitig verursachte die Ausdehnung der Anbauflächen erhebliche ökologische Probleme, vor allem Überschwemmungen. Innere Krisenfaktoren wurden also durch die koloniale Intervention verstärkt, die jedoch als eigentliche Ursache der Krisen interpretiert wurde.

Mit den sogenannten Opiumkriegen (1840–1842 und 1856–60) hatte Großbritannien die Öffnung Chinas erzwungen. Die Hoffnung auf den chinesischen Absatzmarkt versetzte nicht nur England »in wilde Erregung«, so Karl Marx. Die Kriege entlarvten die »sich christlich drapierende und mit Zivilisation hausierende britische Regierung«, von der die »Vergiftung eines Volkes« als Geschäftsmodell betrieben wurde: Mit dem Export von in Indien produziertem Opium nach China finanzierte England seinen Teeimport.

Als chinesische Beamte britisches Opium beschlagnahmten, schickte England eine Flotte, die Küstenstädte in Schutt und Asche legte. China musste den Opiumhandel legalisieren, Handelsstützpunkte (Hongkong) abtreten, zudem immense Summen an Kriegsentschädigung aufbringen, die auf die Bevölkerung abgewälzt wurden.

Dadurch wurde die »Taiping-Revolution« (1851–1864) ausgelöst, die mit 30 Millionen Toten als blutigster Bürgerkrieg der Weltgeschichte gilt. Demütigende Niederlagen in den Kriegen mit Frankreich (1884, Abtretung Vietnams) und vor allem Japan (1894, Abtretung Taiwans), das innerhalb von 20 Jahren zum imperialen Industrieland aufgestiegen war, legten die gesellschaftliche und technologische Rückständigkeit Chinas offen. Seine Eliten gerieten in eine Zwickmühle aus Angst vor Revolution und der Entmachtung durch die Interventionsmächte.

Koloniale »Kulturpioniere«

Als »Kulturpioniere« der Kolonialpolitik wirkten die christlichen Missionare: »Je mehr das Land erschlossen wird und dem europäischen Handel zugänglich, um so mehr muss gearbeitet werden, dass die wahre Kultur, die nur mit dem Christentum aufblühen kann, Eingang findet.«² Der katholische Bischof Johann Baptist Anzer hatte den Blick Deutschlands auf die Provinz Shantung und die flottengeeignete Bucht gerichtet und die »deutsche Protektion«³ angestrebt.

Gegen die »christliche Besetzung Chinas« formierte sich allerdings auch Widerstand, etwa als Bischof Anzer 1888 seinen Sitz in Qufu, der heiligen Stadt des Konfuzius, errichten wollte. Da in der Regel Familien und Familienclans zum Christentum übertraten, entstanden im Schutz der Kolonialmächte christliche Exklaven, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdeten.

Christianisierte Chinesen mussten sich dem Ahnenkult und den dörflichen Opferritualen entziehen und wurden für Missernten und Überschwemmungen verantwortlich gemacht. Umgekehrt werteten die Missionare chinesische Vorstellungen als »Teufelsdienst« ab und sahen in den Chinesen bloß »faule Schlitzaugen« und »hinterhältige Kulis«, so Georg Stenz (1869–1928) von der Steyler Mission. Wilhelm Schmidt (1868–1954), Ausbilder von Missionspriestern der Steyler Mission, sprach von einer »Werthierarchie der Rassen«. Der missionarische war zutiefst mit einem kolonialen Überlegenheitsdünkel verbunden.

Wende zur »Weltpolitik«

Mit der Wende zur »Weltpolitik« strebte auch Deutschland einen »Platz an der Sonne an«, wie es der damalige Außenminister Bernhard von Bülow Ende 1897 formulierte. Für die Eroberungen im Fernen Osten brauchte Deutschland einen Tiefwasserhafen, der die Kriegs- und Handelsflotte mit Kohle versorgen konnte, und Admiral Alfred von Tirpitz wählte bei seinem China-Besuch 1886 die Bucht von Jiaozhou.

Der »Juye-Zwischenfall« (chinesisch Chuyeh) im November 1887 bot den erhofften Vorwand für deren Eroberung. Dort schwelte ein Konflikt um Konvertiten, die sich weigerten, für Tempelopfer zu zahlen. Am 1. November 1897 drang eine Gruppe von 20 Bewaffneten nachts in die deutsche Mission ein, raubte sie aus und stach mit Lanzen auf die zwei vorgefunden Missionare ein, während sich der Missionsleiter unentdeckt in einem Nebenraum versteckte. Zunächst wurden die Räuber verhaftet und hingerichtet, dann Mitglieder des Geheimbunds der »Gesellschaft der großen Schwerter« als »die üblichen Verdächtigen« – aufgeklärt wurde der Vorgang nie.

Der deutsche Kaiser ließ »erfreut über den Vorwand«, wie die englische Presse schrieb, die Bucht von Jiaozhou (Kiautschou) mit der Stadt Qingdao (Tsingtao) besetzen und beanspruchte die Vorherrschaft der Provinz Shantung. Die »Musterkolonie« sollte als Basis einer ökonomischen und kulturellen Durchdringung Chinas dienen.

Als Deutschland 1899 begann, eine Eisenbahn und Bergwerke zu errichten, wehrte sich die Bevölkerung. Die Linienführung erfolgte ohne angemessene Entschädigung der Bauern, ohne Absprache mit den chinesischen Behörden, ohne Rücksicht auf das Kanalsystem und Hochwassergefahren – und ohne Rücksicht auf die Ahnengräber, die im Volksglauben eine zentrale Rolle spielten. Der Widerstand wurde zwar von deutschen Kolonialtruppen blutig unterdrückt, mündete dann aber unmittelbar in die »Boxerbewegung«, die zum zentralen Akteur des Widerstands wuchs.

Gotteszorn und Staatszerfall

1889 hatte der Gelbe Fluss erneut katastrophale Überschwemmungen verursacht, Tausende Dörfer und riesige Ackerflächen zerstört, Millionen Menschen obdachlos gemacht und unvorstellbare Hungerkatastrophen ausgelöst, denen bis zu 13 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dafür waren zwar eher Landausbau und das Versagen des Staates verantwortlich, der den Deichbau und die traditionelle Katastrophenhilfe vernachlässigte, einerseits bedingt durch Korruption, andererseits durch die Tributzahlungen an die Kolonialmächte. Doch glaubten nicht wenige, dass Entehrung von Gräbern ebenso wie der Bau von Kirchtürmen die Götter erzürnt habe.

Vor dem Hintergrund von Staatszerfall, sozialen und ökologischen Katastrophen sowie der Demütigungen durch die Kolonialmächte verdichteten sich Ängste vor Ausländern und Konvertiten zu Hass; örtliche Konflikte eskalierten zu Verfolgungen von Christen, die die einzig greifbaren Gegner für die ländliche Bevölkerung waren.

Geheimgesellschaften wie die »Geisterkämpfer«, die als Dorfmilizen Schutzfunktionen ausgeübten, trainierten einen »von Geistern gelehrten Faustkampf«. Tief verwurzelt im Volksglauben vertraten sie traditionelle Werte und eine militante Ablehnung der Christianisierung.⁴ Verschiedene Gesellschaften verschmolzen 1898 zu Yihequan, den »Fäusten vereinigt für Gerechtigkeit«, von den Europäern »Boxer« genannt, die sich später Yi Ho Tuan nannten, »Verband für Gerechtigkeit und Zusammenhalt«, eine lose und ideologisch widersprüchliche Bewegung ohne zentrale Führung. Einer der Gründer, Zhu Hongdeng (Shun Hung Döng), ein Arzt, dessen Haus durch die Überschwemmungen zerstört worden war, und der zunächst das Qing-Regime für den Verfall der Deiche verantwortlich machte, gab nun die Parole aus: »Unterstützt die Qing, Tod den Ausländern!« Angestrebt wurde keine Revolution, sondern ein Bündnis mit den Eliten.

Modern für jene Zeit waren die Mobilisierungsmittel: Mit öffentlichen Kampfspielen und Theatervorführungen konnten die »Boxer« ihre Vorstellungen den einfachen Menschen nahebringen. Frauen wurden in die Organisation eingebunden, indem sie als eigene Abteilungen der »Roten Laternen« eine anfeuernde und auch magische Rolle spielen sollten.

Die »Boxerbewegung« wuchs in den Hungerregionen schnell zu einer antikolonialen und antichristlichen Massenbewegung, die schließlich 500.000 Kämpferinnen und Kämpfer vor allem aus der dörflichen Jugend umfasste. Bis auf wenige Ausnahmen wurden nun die »imperialistischen Kirchen« in den Nordprovinzen abgebrannt und Tausende chinesische Christen umgebracht.

»Politik des großen Stocks«

Mitte Juni 1900 erreichten etwa 200.000 Yi Ho Tuan Peking (Beijing) und demonstrierten in den Straßen. Ausländische Läden, die englische Rennbahn und Kirchen wurden angegriffen, umgekehrt brüsteten sich die zur Bewachung der Botschaften anwesenden Marinesoldaten, mehrere hundert »Diebe, Boxer und kaiserliche Soldaten« abgeknallt zu haben.⁵

Besonders der deutsche Gesandte Clemens von Ketteler tat sich dabei als aktiver Befürworter der »Politik des großen Stocks« hervor. Anfang Juni verprügelte er einen »Boxer« mit dem Spazierstock und »verhaftete« einen Jungen, den er in der deutschen Botschaft »offenbar in einem Tobsuchtsanfall« erschoss.⁶ Als am 17. Juni eine Gruppe »Boxer« ihre rituellen Übungen vor der Stadtmauer abhielt, schossen er »und seine fröhlichen Mannen« auf die Chinesen »wie auf Tontauben« und richteten ein Blutbad an.⁷ Die englischen Diplomaten warfen Ketteler nicht zu Unrecht vor, die Belagerung des Gesandtschaftsviertels provoziert zu haben.

Die Kaiserwitwe Cixi ließ zunächst gegen die »Boxer« vorgehen. Als aber am 10. Juni Kolonialsoldaten auf Beijing zumarschierten und die Kolonialmächte Dagu-Forts stürmten, die den Zugang zur Stadt schützten, betrachtete Cixi dies als Kriegserklärung. Da sie die erneute Besetzung Beijings befürchtete, rief sie die Yi Ho Tuan zur Unterstützung gegen die Intervention.

Vom 20. Juni bis zum 14. August wurde das befestigte Gesandtschaftsviertel in einer Art »symbolischer Geiselnahme«⁸ belagert, wobei die »Boxer« mit Steinen, Schwertern und Lanzen angriffen, jedoch zurückgeschlagen wurden. Hunderte starben, während die reguläre Armee eher Scheinangriffe durchführte. Als Ketteler sich am 20. Juni beim chinesischen Außenministerium beschweren wollte, wurde er auf dem Weg von dem chinesischen Wachsoldaten En Hai erschossen. En Hai gab im Verhör an, es habe zuvor ein Schusswechsel stattgefunden, ausgelöst durch Ketteler selbst.

Kein Pardon

Kaiser Wilhelm hatte schon eine Woche zuvor auf Grund einer Falschmeldung über den angeblichen Tod Kettelers zum Rachefeldzug aufgerufen: »Der deutsche Gesandte wird durch meine Truppen gerächt. Peking muss rasiert werden.« Umgehend stellte er ein Expeditionskorps zusammen, bei dessen Verabschiedung er in seiner berüchtigten »Hunnenrede« zu brutalen Kriegsverbrechen aufrief: »Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, so möge der Name Deutscher in China auf 1.000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!«

Doch als das deutsche Expeditionskorps am 13. September in China ankam, waren die Kämpfe schon einen Monat zu Ende, und die Soldaten marschierten durch zerstörte und menschenleere Dörfer. Zwar hatte sich das erste internationale Expeditionskorps mit seinen rund 2.000 Mann unter Befehl des britischen Admirals Edward Hobart Seymour am 18. Juni zurückziehen müssen – die »Boxer« hatten die Bahnlinie zerstört, und auch die reguläre Armee leistete erbitterten Widerstand. Doch Anfang August hatten die Kolonialmächte eine zunächst 20.000 Soldaten umfassende zweite Eingreiftruppe in Marsch gesetzt, die Beijing am 14. August eroberte.

Die ganze Stadt wurde nun zur Brandschatzung freigegeben, ein »Volksfest des Plünderns« begann. »Jeden Tag konnte man lange Reihen von Packeseln sehen, die ganze Ladungen von Silber, Getreide und Seide aus Regierungs- und Privathäusern und den Palästen zu den Quartieren der Alliierten transportierten. Missionare ebenso wie Soldaten und Diplomaten wurden häufig beobachtet, wie sie wertvolle Gegenstände aus verlassenen Häusern hinaustrugen«, so ein britischer Zollbeamter. Erschossen wurde, wer in Verdacht stand, »Boxer« zu sein. Tempel wie die berühmte »Weiße Pagode« aus Porzellan wurden in die Luft gesprengt, um die Chinesen davon zu überzeugen, dass es »sinnlos sei, Götter zu verehren, deren Rat die ›Boxer‹ gesucht hatten«, so ein beteiligter englischer Offizier.⁹

Die »Kulturmission« der insgesamt etwa 19.000 deutschen Soldaten bestand bis in den April 1901 hinein in Strafexpeditionen gegen Orte, in denen man Aufständische vermutete. »Alles, was leicht wegzuschleppen war, wurde fortgetragen.« Es wurde, so die Kolonialisten, »alles niedergemetzelt, was uns in die Finger kam, dabei wurden weder Weib noch Kind verschont. Gegen Abend brannten wir die ganze Stadt nieder. Ich sah an diesem Tag eher einem Metzger als einem deutschen Soldaten ähnlich.«¹⁰
Propagandakrieg

Begleitet wurde die Intervention in Deutschland von einem Propagandakrieg. Falschmeldungen – wie jene vom 16. Juni, alle im Gesandtschaftsviertel seien ermordet worden – schürten Hass. Propagandapostkarten und Sammelbilder ebenso wie Abenteuerliteratur verbreiteten ein Bild vom hinterhältigen Chinesen. Die Kirchen förderten eine Märtyrerliteratur, die zum Kreuzzug gegen die »gelbe Gefahr« aufrief, die tatsächlichen Konflikte aber verdeckte. Innenpolitisch gelang durch die Propagierung der Missionspolitik die Einbindung der katholischen Zentrumspartei: Nach zweimaligem Scheitern wurde dadurch das Tirpitzsche Flottengesetz im März 1898 verabschiedet.

Erst die Veröffentlichung der »Hunnenbriefe« genannten Feldpostbriefe mit authentischen Schilderungen der Greueltaten in der linken Presse setzten einen Kontrapunkt zu Kolonialpropaganda und Märtyrerlegenden. Verantwortliche Journalisten wurden jedoch mit der Begründung zu Gefängnisstrafen verurteilt, die Briefe – ebenso wie die Karikaturen im Wahren Jacob – seien geeignet, »das Ansehen der deutschen Armee zu schädigen«.

Als im November 1900 der Reichstag wieder zusammentrat, nutzte August Bebel dies für eine viel beachtete Generalabrechnung. Erstaunlich kenntnisreich analysierte er die zum »Boxerkrieg« führenden Provokationen, etwa die Schüsse der Botschaftswachen auf »Boxer«, ausführlich zitierte er aus den Hunnenbriefen, in denen es heißt, Gefangene seien hingerichtet worden »indem man sie mit den Zöpfen aneinanderband, sie vorher zwang, ihr Grab zu schaufeln, worauf sie erschossen wurden und rückwärts in das Grab fielen«.

Er kritisierte den Eroberungskrieg, die »souveräne Verachtung« der Chinesen wie auch die scheinheilige Benutzung der Religion als »Deckmantel politischer Bestrebungen« und verlangte unter dem Gelächter des hohen Hauses (gelacht wurde im Lager der Rechten) die gleichberechtigte Anerkennung Chinas. Allein die Sozialdemokratie stimmte am Schluss gegen die Etatvorlage.

Im September 1900 sollte sich der Mainzer Parteitag der SPD erstmals ausführlich mit der deutschen »Weltpolitik« befassen, doch die beschlossene Protestbewegung gegen »Raub- und Eroberungspolitik« blieb Papier – trotz Rosa Luxemburgs Appell an den Parteitag und ihrer Reden Ende 1900. Die grundsätzliche Ablehnung der Kolonialpolitik wurde von Vertretern des rechten Flügels wie dem kolonialpolitischen Sprecher Gustav Noske zunehmend unterlaufen. Noske stellte sich dar als ideologiefreier Realpolitiker, repräsentierte bei genauem Hinsehen aber das lähmende Umsichgreifen sozialimperialistischer Positionen in der SPD. Als er 1912 sogar der Finanzierung der deutschen Truppen in Kiautschou mit der Begründung zustimmte, deutsche Staatsbürger müssten geschützt werden, war dies schon ein Menetekel der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914.

Früher Volkskrieg

Die Siegesparade der »Heiligen Allianz« konnte nur kurz darüber hinwegtäuschen, dass die Mission politisch gescheitert war. Den Alliierten wurde durch den »Volkskrieg« der Yi Ho Tuan deutlich, dass eine Aufteilung Chinas »Krieg bedeuten und eine große stehenden Armee verlangen« würde.¹¹ Dazu sah sich keine der Mächte in der Lage. Zudem zeichnete sich ab, wie schnell sich ein Krieg gegen China zu einem Krieg um China auswachsen könnte: Kaum drei Jahre später überfiel Japan Port Arthur und vertrieb Russland aus seinen gerade erst eroberten chinesischen Gebieten.

Der »Boxerkrieg« offenbarte aber auch die Schwäche der Qing-Dynastie. 1911 bildete Sun Yat-sen eine republikanische Regierung, die aber schon nach wenigen Wochen durch eine Militärdiktatur ersetzt wurde. China zerfiel in Einflussgebiete von Warlords. 1919 hofften patriotische Studenten auf das von US-Präsident Woodrow Wilson versprochene Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Als aber im Versailler Vertrag die deutschen Konzessionsgebiete an Japan übergeben wurden, setzte die enttäuschte Jugend ihre Hoffnungen auf die russische Revolution, die auf alle Ansprüche auf chinesisches Gebiet verzichtete – und auf den Kommunismus, der in China mit der nationalen Befreiung verwoben wurde.

Die ein Jahrhundert dauernde Ohnmacht gegenüber den »Kulturmissionen« des Westens bleibt eine traumatische Erfahrung Chinas. Wenn sich Nationen, wie die Historikerin Birgit Aschmann sagt, über das definieren, woran sie sich gemeinsam erinnern, und über das, was sie gemeinsam vergessen, dann wäre allerdings auch die deutsche Politik gut beraten, sich an die barbarische Intervention im »Boxerkrieg« zu erinnern, bevor sie erneut Kampfschiffe vor Chinas Küste schickt.

Anmerkungen

1 Vgl.: Egbert Kieser: Als China erwachte. Esslingen und München 1984, S. 322 ff.
2 Georg M. Stenz: Erlebnisse eines Missionars in China. Trier 1899, S. 86
3 Karl J. Rivinius: Imperialistische Welt- und Missionspolitik: der Fall Kiautschou. In: Klaus J. Bade (Hrsg.): Imperialismus und Kolonialmission. Wiesbaden 1984, S. 277
4 Vgl. Paul A. Cohen: History in three Keys. The Boxers as Event, Experience and Myth. New York 1997, S. 23 und 30
5 Mechthild Leutner, Klaus Mühlhahn: Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900–1901. Berlin 2007, S. 105
6 Heinz-Jürgen Trütken-Kirsch: Gesandter im Dienste Seiner Majestät. Zur politischen Instrumentalisierung des Clemens von Ketteler (1853–1900). Westfälische Zeitschrift 164, 2014, S. 71
7 Susanne Kuß, Bernd Martin: Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand. München 2002, S. 85
8 Mechthild Leutner, Klaus Mühlhahn: Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900–1901. Berlin 2007, S. 108
9 Vgl.: Richard O’Connor: Der Boxeraufstand. München 1980, S. 246 ff.
10 Mechthild Leutner, Klaus Mühlhahn: Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900–1901. Berlin 2007, S. 124
11 Richard O’Connor (1980): Der Boxeraufstand. München 1980, S. 274

Erhard Korn ist Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg und aktiv im Vorstandsbereich Grundsatzfragen der GEW Baden-Württemberg. Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in der Tageszeitung Junge Welt vom 04.09.2021. Wir danken für die Genehmigung zur Verwendung des Textes.

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