Publikation Staat / Demokratie - Sozialökologischer Umbau - Parteien / Wahlanalysen Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Jochen Weichold über den Sonderparteitag von Bündnis 90/Die Grünen am 25. Juni 2011 in Berlin

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Jochen Weichold,

Erschienen

Juni 2011

Von Glaubwürdigkeit war immer wieder die Rede auf diesem Sonderparteitag der Grünen. Die Glaubwürdigkeit grüner Politik wurde sowohl von der realpolitischen Parteispitze beschworen wie vom linken Parteiflügel. Verständlich – ging es doch um die Haltung der Öko-Partei zum Konzept der schwarz-gelben Bundesregierung für den Atomausstieg und damit um eine zentrale Frage grüner Politik, um ein Anliegen, für das Die Grünen seit mehr als 30 Jahren streiten.

Soll sich nun – nach so langen Kämpfen gemeinsam mit der Anti-Atom-Bewegung – an Stelle der Grünen eine CDU/CSU-FDP-Regierung das Urheberrecht am Atomausstieg auf ihre Fahnen schreiben dürfen? Nein, meinten die Spitzen von Partei und Bundestagsfraktion und legten den Delegierten des Sonderparteitages Ende Juni 2011 in den Berliner Messehallen einen Antrag vor, der – bei viel Kritik am Gesetzespaket der Bundesregierung im Detail – die Zustimmung zum schwarz-gelben Atomausstiegskonzept empfahl.

Die Parteilinken konterten mit zwei Anträgen, die einen Atomausstieg bis spätestens 2017 forderten, wie dies die grüne Bundestagsfraktion in einem Gesetzentwurf im März 2011 nach den Ereignissen von Fukushima verlangt hatte. Beim Konzept der Bundesregierung wären bei der Bundestagswahl 2017 noch mindestens sieben AKW in Betrieb und damit die nächste Laufzeitverlängerungsdebatte vorprogrammiert: „Eine »Unumkehrbarkeit« des Atomausstiegs sieht anders aus.“

In der Debatte unterfütterten Vertreter der Parteilinken ihre Anträge insbesondere mit dem Argument, nach Fukushima müsse man viel früher aus der Kernenergie aussteigen als 2022. „Die Dinger müssen bis 2017 vom Netz“, verlangte der Vormann der Parteilinken Hans-Christoph Ströbele (MdB). „Fünf Jahre mehr – das sind 1825 Tage zu viel. Da können wir doch nicht Ja sagen.“ Jeder Tag, an dem Atomkraftwerke laufen, so andere Redner, sei ein Tag mehr Restrisiko. Mit der Zustimmung zum End-Datum 2022 würden Die Grünen in eine Falle Merkels laufen und sich unglaubwürdig machen. Sie verlangten, den Atomausstieg ins Grundgesetz zu schreiben.

Vertreter der Grünen-Führung wie der Bundestagsfraktionsvorsitzende Jürgen Trittin argumentierten dagegen: „Wir haben Frau Merkel gezwungen, eine 180-Grad-Wende (in der Atompolitik – J.W.) vorzunehmen.“ Er erinnerte daran, dass Die Grünen im März 2011 einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht hatten, mit dem sie die Rücknahme der Laufzeitverlängerung der AKW und die Abschaltung der acht Altmeiler verlangten. Sich nun den eigenen Forderungen nach einem Atomausstieg und der sofortigen Abschaltung von acht Atommeilern zu verweigern, wäre unglaubwürdig.

Und Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, erklärte, dass er im Bundesrat gemeinsam mit den anderen Ministerpräsidenten die stufenweise Abschaltung der AKW gegen die Bundeskanzlerin durchgesetzt habe. Das könne als eine „Sternstunde des Föderalismus“ gelten. Er behauptete, über den Bundesrat so viel von den grünen Forderungen durchgedrückt zu haben, dass nun Die Grünen das Maß aller Dinge in der Energiepolitik seien. „Größer kann ein Erfolg einer Partei nicht sein.“ Nun komme es darauf an, zu zeigen, dass Atomausstieg, Klimaschutz und Wohlstand zusammengingen, beschwor Kretschmann die Basisvertreter im Saal und eröffnete damit bereits das Feld der nächsten politischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik.

Parteichefin Claudia Roth räumte ein, dass das schwarz-gelbe Ausstiegskonzept in mancher Hinsicht sogar besser sei als der Atomkonsens aus rot-grünen Regierungszeiten. Und in der Tat unterscheidet sich das Konzept der Merkel-Regierung in zwei Punkten positiv von dem seinerzeit von den Bewegungsvertretern als „Nonsens“ geschmähten Atomkonsens von 2001: Erstens sieht es vor, die sieben ältesten Atommeiler und das Pannen-AKW Krümmel sofort stillzulegen, und zweitens schreibt es mit dem Jahr 2022 ein End-Datum für den Atom-Ausstieg fest.

Während zu Beginn der Debatte Parteiführung und Parteilinke jeweils ein Drittel der Delegierten hinter sich wussten und sich ein Drittel der Delegierten unentschieden zeigte, war das Ergebnis am Ende des Parteitages nach einer argumentativ geführten Debatte, die keine der beteiligten Seiten beschädigte, eindeutig: Über 90 Prozent der Basisvertreter stimmten für den durch Änderungsanträge geschärften Leitantrag des Bundesvorstandes. Ein Beispiel politischer Führungsfähigkeit, das in diesem Lande selten geworden ist.

Die Führung der Grünen wagt mit der Zustimmung zum Atomausstiegskonzept der schwarz-gelben Bundesregierung bewusst einen Spagat zwischen den neuen (realen und potentiellen) Wählerschichten und den Protagonisten der Anti-Atom-Bewegung. Während es den neuen Wählern darauf ankommt, dass die Richtung stimmt, und sie eher dafür zu haben sind, den Ausstieg aus der Nutzung der Kernkraft schrittweise zu betreiben, ohne dass das Licht ausgeht und der Geldbeutel zu sehr belastet wird, versteht sich die Anti-Atom-Bewegung als Pressure Group. Sie ist der Auffassung, nur mit radikaleren Forderungen lasse sich so viel politischer Druck aufbauen, dass die Wende in der Energiepolitik überhaupt realisiert wird.

Beide Zielgruppen der Grünen sind schwer unter einen Hut zu bekommen. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich der Riss zwischen der Öko-Partei und den politischen Bewegungen, der in der rot-grünen Regierungszeit entstanden war und der in den letzten Jahren mühsam, aber keineswegs erfolglos wieder gekittet werden konnte, erneut auftut. Einflussreiche Vertreter der Anti-Atom-Bewegung wie Jochen Stay von „ausgestrahlt“ warnten bereits vor der Bundesdelegiertenkonferenz, mit einer Zustimmung zum schwarz-gelben Ausstiegsplan im Bundestag könnten sich Die Grünen „nicht mehr Teil der Anti-Atom-Bewegung nennen“.

Die Führung der Öko-Partei erhofft sich im Gegensatz dazu, die bei den letzten Landtagswahlen hinzugewonnen Wähler zu halten, das Image einer „Dagegen-Partei“ abzustreifen und noch tiefer in das Milieu der neuen Mittelschichten einzudringen. Dadurch soll der nötige Schub entstehen, der Die Grünen 2013 in die nächste Bundesregierung katapultieren kann – egal ob an der Seite der SPD oder an der Seite einer ökologisch geläuterten Union. Dann könnten sie aus einer gestärkten Position heraus einen neuen Vorstoß unternehmen, um die Laufzeit der letzten Atommeiler weiter zu verkürzen. Ob die Rechnung der Grünen-Führung aufgeht, wird sich zeigen.

 

Der Text wird leicht gekürzt in der Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE „Disput“ (Juli-Ausgabe) erscheinen.