Die Mobilitätswende findet, so sie denn überhaupt stattfindet, in den Städten statt. Hier existiert in der Regel bereits ein halbwegs gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr mit Bussen, Straßenbahnen, und teilweise U-Bahnen sowie mit einer Einbindung an das Netz von Regional und Fernzügen. Auch der Fuß- und Radverkehr spielt in den Städten eine größere Rolle. Zudem gibt es in Städten eher Zusammenschlüsse von Menschen, die sich für eine Mobilitätswende und lebenswerte Städte engagieren oder gar für autofreie Innenstädte streiten.
Dagegen fristet der ÖPNV auf dem Land ein Schattendasein. In den letzten Jahrzehnten wurden existierende öffentliche Mobilitätsangebote sogar noch systematisch abgebaut. Von 1960 bis 1993 wurden über 8.000 Kilometer Bahnstrecken – die meisten davon im ländlichen Raum – stillgelegt. Die Bahnreform im Jahr 1994 bescherte eine weitere Stilllegungswelle mit zusätzlich 5.400 Kilometern vom Verkehr abgekoppelten Gleisen. Die verbliebenen öffentlichen Verkehrslinien sind in der Regel sternförmig auf das nächstgelegene Zentrum ausgerichtet. Netzförmige und flächendeckende Infrastrukturen, die auch kleinere Gemeinden direkt verbinden, fehlen weitgehend. Der ausgedünnte ÖPNV ist kaum dazu in der Lage, den differenzierten Mobilitätsbedürfnissen und -zielen verschiedener sozialer Gruppen gerecht zu werden. Auch zu Fuß, aber auch mit dem Rad sind viele Angebote in peripheren ländlichen Regionen nicht in einer vertretbaren Zeit zu erreichen. Für die Erreichbarkeit wichtiger Einrichtungen der Nahversorgung und der öffentlichen Daseinsvorsorge ist das Auto für viele alternativlos. Für viele, die auf dem Land leben, sind die Wege zum nächsten Lebensmittelmarkt, zur Arztpraxis oder zur Bank weit. Mangels Alternativen legen die meisten Menschen dort ihre Alltagswege mit dem eigenen Auto zurück. In nicht wenigen Haushalten gibt es neben dem Zweit- sogar einen Drittwagen. Öffentliche Mobilität in auf dem Land allenfalls ein Nischenthema.
ANDERERSEITS GILT. Wenn wir die drohende Klimakatastrophe abwenden oder auch nur deutlich in ihrer Wirkung abschwächen wollen, ist der Umstieg auf eine nachhaltige und gerechte Verkehrspolitik nicht nur in den Städten nötig, sondern gerade auch auf dem Land dringend erforderlich.
Das Freudenstädter ÖPNV Taxi
Auch wenn die Situation ziemlich desolat, ja fast hoffnungslos erscheint - es gibt durchaus einzelne Ansätze, die andeuten, wie in ländlichen Gebieten eine umweltverträgliche und klimaschonende Mobilität gehen kann. Ein Beispiel dafür findet sich ausgerechnet in einer Region, wo man/frau es nicht unbedingt erwarten würde.
Im Nordschwarzwald rund um die beiden Kleinstädte Freudenstadt und Horb wurde in den letzten beiden Jahren ein Projekt entwickelt, das es wert ist, zur Kenntnis genommen zu werden. Durch das ÖPNV Taxi wird Bewohnerinnen von kleinen abgelegenen Ortschaften die Teilnahme am ÖPNV eröffnet. Mit dem Freudenstadter Modell lässt sich ein zentrales Problem des Busverkehrs auf dem flachen Land vermieden. Nämlich, dass Busse mit 50 Sitzplätzen praktisch leer durch kleine Ortschaften fahren. Durch das ÖPNV Taxi werden diese kleinen Ortschaften bei Bedarf durch Taxis angeschlossen. Die Taxis bringen die Fahrgäste zu einer der besser ausgebauten Hauptlinien des Busverkehrs oder zu einem Bahnhof.
Wie geht das?
Im Kreis Freudenstadt können seit September 2022 Fahrgäste, deren Fahrtwunsch nicht innerhalb einer Stunde durch reguläre Bus- und/oder Bahnverbindungen bedient wird, ein ÖPNV-Taxi zu günstigen Fahrpreisen bestellen. Das Angebot gilt Mo. bis Do. von 5 bis 24 Uhr, Fr. von 5 bis 1 Uhr, Sa. von 7 bis 1 Uhr und So. von 7 bis 24 Uhr im oben genannten Gebiet. Die Bestellung des Taxis hat nicht wie bei vielen Rufbussystemen anderswo einen Tag, sondern lediglich 40-60 Minuten Vorlauf. Geordert werden kann das Taxi per App, aber eben auch mit einer stinknormalen Festnetznummer über ein Callcenter der örtlichen Verkehrsgesellschaft. Damit wird - anders als in vielen anderen sonstigen Internet-verliebten Projekten- auch Menschen der Zugang zum ÖPNV ermöglicht, die über kein Smartphone oder keinen Internet-Zugang verfügen.
Der Fahrgast teilt lediglich seinen Fahrtwunsch mit. Dann wird von der APP oder vom Callcenter Mitarbeiter geprüft, ob in den nächsten 45 bis 60 Minuten eine fahrplanmäßige Bus- und/oder Bahnverbindungen zur Verfügung steht. Wenn Ja, wird der Fahrgast auf diese verwiesen. Wenn Nein, kann direkt ein ÖPNV-Taxi zum reduzierten Taxi-Fahrpreis bestellt werden. Für ein bis zwei Euro Aufschlag auf den normalen ÖPNV Tarif können sich die Leute zu einer nahegelegenen Haltestelle bringen lassen. Für fünf Euro Aufschlag fährt das Taxi bis vor die Haustüre.
Das liebe Geld…
Wünschenswert wäre natürlich, dass die Leute auch für das ÖPNV Taxi lediglich den normalen ÖPNV Fahrpreis zahlen. Aber für bundesdeutsche Verhältnisse, ist das Freudenstädter ÖPNV Taxi erstaunlich preiswert. Durch diesen Aufschlag sollten potentiell interessierte Fahrgäste nicht abgeschreckt werden. Natürlich ist das ganze Projekt nicht kostendeckend. Die Differenz zwischen dem vom Kunden an das Taxis gezahlten Fahrpreis und dem regulären Taxispreis erstattet der Landkreis den dem Taxiunternehmen. Der Landkreis wiederum bekommt eine Subvention vom Land. Das Freudenstädter Modell erhält bisher einen jährlichen Zuschuss von 1,8 Millionen Euro im Rahmen des Förderprogramms «Innovationsoffensive öffentliche Mobilität» vom Verkehrsministerium in Stuttgart.
Die fehlende Kostendeckung ist aber kein Argument gegen so ein Projekt. Es sollte vor allen ein Anstoß dafür sein, zu schauen, wo Landes- und Bundesgelder Gelder von unsinnigen Projekten der Förderung des Straßenbaus und der Förderung des Autoverkehr umgeschichtet werden können.
Gut, aber wenig bekannt
Eine grundsätzliche Schwäche teilt das Freudenstädter ÖPNV Taxi mit vielen anderen von öffentlichen Behörden betriebenen Projekten: Es gibt wenig Werbung. Vielen Leuten im Kreis dürfte gar nicht bekannt sein, dass es so etwas gibt. Prinzipiell sollte die Einführung solch sinnvoller Projekte von einer umfassenden kreativen Werbekampagne begleitet sein. In den teilnehmenden Gemeinden könnten zur Einführung des Projekts Volksfeste organisiert werden. wo im Rahmen von Hocketsen könnte den Leuten erklärt werden, wie das System funktioniert. Leider haben so etwas die verantwortlichen Behörden meist nicht auf dem Schirm oder es fehlt ihnen schlicht an personellen und finanziellen Möglichkeiten. Hinzu kommt, dass es im ländlichen Raum auch keine Verkehrsinitiativen gibt, die hier unterstützend wirken können.
Eine wirkliche «Mobilitätsoffensive» muss her
Ob Freudenstädter Modell ein umfassender Erfolg wird, hängt aber vor allem auch von Faktoren ab, die jenseits der Grenzen des Landkreises Freudenstadt entschieden werden. Das fängt an bei Fahrplandichte und Taktung beim Angebot bei den Bus- und Bahnlinien im Kreis. In einer vom Verkehrsministerium herausgegeben Broschüre ÖPNV Strategie 2030 wird mit Blick auf Baden-Württemberg werden die bestehenden Probleme richtig beschrieben: «Die Fahrplandichte ….hat, gerade in der Fläche, noch starkes Ausbaupotential, was sich besonders im Vergleich mit raumstrukturell ähnlichen, nahegelegenen Regionen in der Schweiz und Österreich zeigt. Der ÖPNV fährt bei uns noch nicht häufig genug und wird an Wochenenden und zu Tagestrandzeiten vielerorts stark reduziert. Das Angebot ist häufig noch zu langsam und nicht zuverlässig. Es fehlt oft an durchgehenden, aufeinander abgestimmten sowie anschlussgesicherten Verkehrsangeboten, die durchgehende Reiseketten ergeben».
Wie die Lösung aussehen könnte wird in der gleichen Broschüre richtig beschrieben: Unter «Zielbild 2030» ist dort zu lesen: «In den Verdichtungsräumen ist bei Bus und Bahn zu gängigen Verkehrszeiten mindestens ein Viertelstundentakt die Regel. In der Fläche kommt man zu diesen Tageszeiten mit dem ÖPNV grundsätzlich im Halbstundentakt nahezu überall hin». Dazu müsste aber die vom baden-württembergischen Verkehrsminister angekündigte «Mobilitätsoffensive» tatsächlich stattfinden. Das Verkehrsministerium in Stuttgart macht zwar viel PR rund um das Thema und veranstaltet viele Konferenzen.
Schöne Worte - traurige Realpolitik
Leider ist es so, dass das reale Handeln der politisch Verantwortlichen in Baden-Württemberg den schönen Worten in den Strategiepapieren nicht gerecht wird. Der SPD-Verkehrsexperte Hans-Peter Storz hatte schon im November 2022 festgestellt: «Wer die Zahl der Fahrgäste in Bussen und Bahnen verdoppeln will, müsste irgendwann damit anfangen, mehr Züge zu bestellen und die Verkehrsverbünde in die Lage zu versetzen, mehr Busse zu beschaffen.» Verkehrsminister Herrmann bekomme vom grünen Finanzminister Danyal Bayaz nicht das nötige Geld und die CDU verwässere die Zielvorgaben. «Und der Ministerpräsident schaut desinteressiert zu». Im Doppelhaushalt 2023/2024 gab es keinen Haushaltsposten für die sogenannte Mobilitätsgarantie. Damit war das zentrale mit vielen schönen Worten flankierte Vorhaben von Verkehrsminister Herrmann PD-Verkehrsexperte Storz monierte faktisch zur «unverbindlichen Wunschvorstellung» geschrumpft. Anfang 2024 machte der Verkehrsminister auch offiziell den Rückzieher: Die Mobilitätsgarantie sei nicht wie geplant bis 2026, sondern erst bis 2030 umsetzbar.
Im Jahr 2024 haben sich mit der Verschärfung der Hochrüstungspolitik und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse die Aussichten für Herrmanns Ziele eher weiter verschlechtert. Im Juli 2024 mahnte die Chefin des Landesrechnungshofs Cornelia Ruppert die Landesregierung zu «strikter Aufgabenkonsolidierung», Finanzminister Danyal Bayaz (Grüne) sieht das Land vor einer finanzpolitischen Zeitenwende und Ministerpräsident Winfried Kretschmann nennt die laufenden Etatberatungen die schwierigsten seiner Amtszeit. Das alles sind deutliche Hinweise darauf, dass es auch im Haushalt 2025/ 26 kein Geld für Herrmanns «Mobilitätsoffensive» geben wird. Dadurch werden viele der im Freudenstädter Modell angelegten positiven Möglichkeiten beeinträchtigt.
Voraussetzung dafür, dass das Freudenstädter Modell die in ihm steckenden Potenzen wirklich entfalten kann, wäre, dass die weiter Oben skizzierten Rahmenbedingungen geschaffen würden.
Damit es überhaupt zu der angekündigten und dringend gebotenen «Mobilitätsoffensive» kommen kann, wäre ein grundsätzlicher Politikwechsel von Seiten der Bundesregierung und der Landesregierungen nötig. Die im Rahmen der «Zeitenwende» beschlossene Hochrüstungspolitik müsste gestoppt werden, es müsste eine Umschichtung der klimaschädlichen Subventionen weg von Straßen und Autobahnen hin zu Bussen und Bahnen stattfinden. Mit einem Satz: Das Freudenstädter ÖPNV-Taxi hätte gute Chancen, zu blühen und zu gedeihen, wenn die Regierenden durch die Besteuerung des enormen Reichtums der Milliardäre und durch radikales Zurückfahren des Rüstungssektors das zur Finanzierung eines guten ÖPNVs nötige Kleingeld zu beschaffen würden.
Paul Michel (Netwerk Ökosozialismus)
Online-Veranstaltung zum Thema: 24.09.2024, 19:30 Uhr - Das Freudenstädter ÖPNV-Taxi. Vielversprechender Ansatz für ÖPNV auf dem Land